Am Abend ihres dritten Todes

Am Abend ihres dritten Todes gleitet sie hinaus, um in den Bäumen zu schlafen.
Die zusammengerollte Gestalt auf ihrer Schlafmatte kreiselt sanft durchs Blickfeld, als Wahrnehmung einsetzt. Geduldig überläßt sie sich einige Augenblicke dem Taumel, folgt dem Vorbeiwandern einer Holzlinie am Boden, erklettert die rauhen Steine der Wand. Geschnitzte Balkenfronten kerben Schlagschatten ins Mondlicht auf der Decke: schwarz, silbern, schwarz - eine Ecke des Fensters schwimmt kurz durch die Horizontale, dann wischt ein Bodenbrett gemächlich die Wand beiseite; wird ersetzt durch die leise atmende Figur im Halo ihres schwarzen Haars. Dort ist unten, sagt sie sich; das Kreiseln hört auf.
Die wollene Decke ist an der Schlafenden bis zur Hüfte herabgerutscht, sieht sie, und bedeckt nur noch ihre Beine. Eigentlich sind die Nächte schon zu kalt, um dermaßen halbnackt dazuliegen; zu früh im Jahr für die erste Erkältung. Aber sie widersteht dem Impuls, zurückzugehen und sich die Decke bis zum Kinn hochzuziehen wie einem kranken Kind. Sie will hinaus. Trauern, und sich erinnern.
So läßt sie die Fensteröffnung heranwandern, das blasengesprenkelte Glas huscht auf sie zu, und vorbei wie eine Nebelwand.
Der Hof draußen liegt still im Dunkeln. Eine Mondsichel lugt schüchtern über das Dach des Skriptoriums, wie ein Kind aus einer Rockfalte aus Wolken. Der Mondschein ist ein Privileg ihres hochgelegenen Fensters - aus den unergründlichen Schatten des Hofs ragen nur die obersten Zweige der alten Kastanie ins Licht, schon herbstkahl, flehende Finger in einem aussichtslosen Griff nach der Helligkeit.
Aus einem Impuls heraus läßt sie sich schräg in die Finsternis hinabgleiten, auf die Fensterfront des unteren Zeugnis-Saals zu. Ein sanfter roter Widerschein dringt durch die Scheiben. Drinnen glimmen die letzten Überreste des Feuers einsam im großen Kamin vor sich hin. Eine der schlanken grauen Katzen des Klosters ruht in ihrem eigenen Kokon aus Wärme auf den Steinen davor; halbgeschlossene Augen starren in eine ungesehene Ecke zwischen Glut und Traum. Ihre Ohren drehen sich leicht, als die Präsenz vorbeidriftet und die Vorstellung von Fingern durch das aufgeplusterte Fell streichen läßt. Man kennt sich; des Nachts besser als am Tage.

Die Schemen der Schreibpulte bevölkern stumm die Tiefen der Halle. Am Morgen wird sich hier eine kleine Gruppe Gestalten einfinden, die meisten jung, die meisten weiblich. Sie werden das Feuer entfachen, mit gespitzten Lippen nachsehen, ob sich eine hauchdünne Eisschicht auf den Tintenfässern finden läßt, und in diesem Fall guten Gewissens gleich noch einige Scheite mehr in die Flammen legen. Und dann werden sie, in einer sorgsam kodifizierten und schnörkellosen Form, die Grundzüge eines fremden Lebens niederlegen. Am nächsten Morgen wird auch sie dabei sein und sich bemühen, etwas in Worte zu fassen, für das es kaum Worte gibt. Jetzt: hinaus. Sie perlt durch die Fugen der Mauer

- Mauer zur Rechten, Mauer zur Linken; sie stürzen an Dir vorbei nach oben, die rostigen Sprossen der eingelassenen Leiter verwischen zu einem bräunlichen Strich,und der Kreis schwarzen Wassers am Boden des Schachts scheint Dich anzuspringen. Kontakt, Eintauchen, ein kurzer Kälteschock. Dein Gesichtssinn verläßt Dich sofort. Dieses Wasser ist nicht nur lichtlos, es ist schwarz, gesättigt mit Gesteinsstaub und allen Überresten, die aus den gefluteten Stollen herausgespült werden konnten. Hier unten kann es keine Sicht geben. Dafür überfällt Dich sofort ein tiefes Wummern, weniger mit den Ohren wahrgenommen als mit dem ganzen Körper: die eingerastete Seilwinde, an deren unbeweglichem Rad die Antriebswelle zerrt, rüttelnd und schleifend, irgendwo da unten im Dunkeln. Löse die Verriegelung, oder die Winde wird aus der Verankerung gerissen; und dann könnt ihr nicht mehr arbeiten bis zum nächsten Sommer. Schnell!
Du nutzt den Schwung des Eintauchens und treibst Dich mit kräftigen Schwimmstößen nach unten. Dabei bläst Du die Luft aus Deinen Lungen; Du fühlst die Blasen an Deinen Ohren vorbeiperlen und Deinen Auftrieb mit sich nehmen. Hinunter, hinunter. Alle paar Sekunden läßt Du eine winzige Luftblase über die Lippen rollen. Sie kullern senkrecht Dein Gesicht hinauf und zeigen Dir an, daß Du noch in die richtige Richtung schwimmst, in die Tiefe.
Alles im Griff. Du bist ein guter Taucher, eineinhalb Minuten sind drin.
Schon stößt Deine ausholende Hand an Metall. Du packst zu, findest mit der anderen Hand das zum Zerreißen gespannte Seil, das hier senkrecht aus dem Windenkasten in die Höhe steigt, in seinen eigenen kleinen wassergefüllten Tunnel hinein, der weit, weit oben unter der Förderanlage terminiert. Alles vibriert in Deinem Griff, die Antriebswelle pumpt förmlich Energie in Seil und Kasten. Du tastest blind herum und hast fast sofort den Haken der Arretierung unter den Fingern. Du stößt Dich vom ungesehenen Seil weg, dem darfst Du gleich nicht mehr zu nahe kommen. Drückst den Haken beiseite und ziehst schnell die Hand fort.
Ein kurzer explosiver Laut platzt aus der umgebenden Dunkelheit, dann geht das Wummern in ein noch tieferes Summen über. Du fühlst ein sachtes Strudeln an den Wangen. Das Seil muß jetzt in Bewegung sein, in rasender Bewegung. Ein tödlicher Strich, nicht mehr als eine Armeslänge entfernt. Nicht berühren, und ab nach oben; Dir geht langsam die Luft aus.
Du drehst das Gesicht und entläßt den letzten gespeicherten Atem. Die Bläschen verschwinden ohne Berührung im Nichts, also behältst Du diese Orientierung bei und stößt Dich ab. Du mußt Dich zwingen, mit den Beinen auszuholen; zu sehr bist Du Dir des brausenden Seils bewußt. Also schwimmst Du mit kurzen, verkrampften Bewegungen.
Ungeachtet dessen scheint der Weg länger, als Du ihn in Erinnerung hast. Du kannst es zwar noch einige Zeit ohne Luft aushalten, aber ein kleiner Stich der Furcht macht sich bemerkbar, als Du zum erwarteten Zeitpunkt die Wasseroberfläche noch nicht erreicht hast. Ruhig, ruhig. Du schwimmst ja auch langsam (aber jetzt pocht das Blut schon in Deinen Ohren...).
Nach weiteren fünf Herzschlägen mußt Du Panik niederkämpfen. Kein gespeicherter Atem mehr, um die Richtung zu überprüfen; wo ist die Schachtwand, wie hoch bist Du denn schon, ist vielleicht schon die Leiter zu spüren?
Deine Hand findet vom Wasser geschliffenen Fels, keine Mauersteine.
Die Panik überrollt Dich. Oh Gott, Du mußt im Seilschacht stecken, Du bist zu nah am Seil geschwommen, umdrehen, schnell, und nach unten, wie weit? ein paar Meter sicher nur, dann an der Kehre entlang hinauf in den Tunnel, schnell! Die Angst saugt Dir den letzten Sauerstoff aus dem Körper, Du wirfst Dich herum, paddelst wild nach unten, und dabei geraten Dein linkes Bein und die Hüfte an das schnurrende Seil.
Einen frenetischen Moment später hängst Du irgendwie, kopfüber, völlig orientierungslos in der lärmenden Finsternis, über Dein Bein läuft eine grelle Linie des Schmerzes, Du strampelst und triffst wieder das Seil. Es reißt Dich herum, Du öffnest unwillkürlich den Mund, um zu schreien, und das Wasser schießt in Deine Lungen wie ein lachender Inkubus. In tödlicher Angst versuchst Du zu husten, wirfst den Kopf herum, hörst direkt neben deinem Ohr das mörderische Summen des Seils, nicht berühren nicht -

- in die Nachtluft auf der anderen Seite.
Die Kühle eines taubesetzten Grasbüschels empfängt sie. Der Wiesenhang, der zum Fluß und den Auwäldern hin abfällt, wirkt aus dieser Perspektive wie eine endlose nächtliche Prärie.
Versilberte Halme reichen sie von Spitze zu Spitze weiter. Jedesmal, wenn einer der Wassertropfen, die wie plattgedrückte Globen auf den Gräsern sitzen, durch ihr Gesichtsfeld zieht, fühlt sie sich mottenhaft angezogen von der Korona des Mondlichts in der winzigen Linse. Ihr Kurs den Hang hinab wird etwas erratisch, pendelt von einem Lichttropfen zum nächsten, zieht kleine verträumte Schleifen um die perfekte Geometrie einer leeren Samenkapsel, die einsam auf der Spitze ihres verdorrten Blütenstiels thront.

Sie erhebt sich über die Wipfel des Graswalds, als sie die lagernden Stämme der diesjährigen Holzernte passiert, die auf ihren Transport in die Schuppen warten. Zwei Gestalten sitzen an den Stapel gelehnt, die Köpfe eng beisammen. Der vage Schein einer Kerze gibt ihnen fast bekannte Gesichter; diese standen heute noch an den Schreibpulten und rangen darum, dem Leben und Tod eines Menschen gerecht zu werden, dessen Name längst in Vergessenheit geraten ist. Der wirkliche Bericht findet hier unter den schwindenden Nachtwolken statt. Auch über den Abstand vieler Jahre hinweg sind die meisten Einsichten doch zu persönlich, um niedergeschrieben zu werden, lesbar für jeden, der den Gedanken vergangener Zeitalter nachspüren will. Unter den Bewohnern des Klosters ist kaum einer, der den Akt der Wissensvermehrung als Hauptmotiv nennen würde, obwohl dieser der offizielle Daseinsgrund des Ordens ist. Wer sich hier aufhält, tut das vielmehr als eine Art von Dienst an der verschwundenen Seele; aus einem Gefühl heraus, daß ein Leben nicht vergessen

- vergessen, verloren; das ist es, was Dir im Kopf herumgeht, während Du die CD auflegst, zum letzten Mal. Verlassen, zurückgelassen; Du hättest nie geglaubt, daß Dein Leben so endet. Aber von dem Moment an, in dem Du begriffen hast, was der Brief Dir mitteilt, war Dir klar, daß Du diesen Raum nicht mehr verlassen kannst, um dem entgegenzutreten, was jetzt kommt. Du bist nicht stark genug dazu.
Versagt; gescheitert.
Sollst Du die Kerze noch anzünden...? Nein. Du willst nichts zelebrieren. Dies ist keine sakrale Handlung, es ist nichts weiter als eine Flucht. Und die Musik ist eine Notwendigkeit.
Mit dem einsetzenden Agnus Dei gehst Du zum Bett hinüber und läßt Dich davor nieder; lehnst Dich an die Matratze. Du siehst den Brief auf dem Kissen liegen. Vorhin hast Du geschrien und geweint, als Du ihn gelesen hast. Jetzt bist Du still, betäubt von Deinem Entschluß und seiner Notwendigkeit. Du holst das Messer hervor und klappst es auf. Nein, eigentlich ist es keine Betäubung, sondern eine Empfindung des Abstands; Du stehst auf der Höhe Deines Entschlusses und siehst auf die kleinen Formen aller anderen Emotionen herab wie von einem Berggipfel. Eine Menge Schuldgefühle sind dabei. Klein, und jetzt nicht mehr ausschlaggebend. Du hättest nie geglaubt, daß es so endet.
Also. Du setzt die Schneide auf Dein Handgelenk. Unwillkürlich, ungebeten wird Dein Atem schneller. Egal. Drücken, und ziehen.
Der Schmerz ist erstaunlich. Viel, viel stärker noch ist das Gefühl, wie ungeheuerlich und unumkehrbar das ist, was Du Deinem Körper gerade antust - nicht wieder gut zu machender Schaden. Keine Rückkehr ist mehr möglich, noch einmal, und noch einmal.
Es ist jetzt schwieriger, mit der linken Hand das Messer zu greifen. So wie manchmal am frühen Morgen, wenn Du keine Faust machen konntest, weil die Muskeln noch eine Art inneren Widerstand zeigten. Ob auch andere Leute diese Empfindung kennen? Oder verschwindet sie mit Dir für immer?
So. Du mußt nicht mehr hinschauen. Das Blut wird auch ohne Deine Überwachung fließen.

Es erfüllt Dich mit einer vagen Dankbarkeit, daß Du Dir bis zum Schluß der Musik bewußt bist.

- daß ein Leben nicht verloren sein sollte. Deshalb diese Gespräche im Kreis eines schwachen Lichts, mit jemandem, der ebenfalls weiß, was es heißt, zu leben und zu sterben und davon zu berichten, immer wieder, so oft es deine Kraft zuläßt. Sie sind das, was zählt; und eine sehr private Angelegenheit. Sie gleitet am Holzstapel vorbei.
Ihr dritter Tod, ihr drittes Leben; kurz, so kurz! In seiner Gesamtheit nicht länger als die winzige Urknallsekunde am Beginn der anderen beiden; und trotzdem genau so schwerwiegend. Die beiden, die dort hinter ihr in der Dunkelheit leise miteinander reden, würden es vielleicht sogar als eine Art von Erholung ansehen. Aber sie ist noch nicht lange hier, sie ist es noch nicht gewohnt. Sie braucht zuerst die Gesellschaft eines Baums, bevor sie die eines Menschen ertragen kann. Wahrscheinlich befinden sich andere oben in den Baumkronen, die jetzt vor ihr ein blattloses Gitterwerk über den Mond geworfen haben. Der Geist kann vieles tun, während der Körper schläft. Es hat eine Art belustigende Richtigkeit, daß eine der schönsten Möglichkeiten zu sein scheint, den Sonnenaufgang über dem Fluß von einer Baumkrone aus zu betrachten. Sie hat kurz ein absurdes Bild vor Augen von einer Schar unsichtbarer Personen, die die Astgabeln bevölkern und mit baumelndem Beinen nach Osten blicken. Aber jeder von ihnen ist alleine, wenn er es nicht anders will. Die glatten Zweige glänzen leer vor dem Himmel, als sie zu ihnen hinauftreibt.
Ein einzelnes, fast trockenes Blatt an der Spitze eines Wipfelzweigs verankert sie hoch über dem dunklen Band des Wassers.
Es wird noch einige Stunden dauern, ehe die ersten Anzeichen der Morgendämmerung durch das Tal heraufkriechen werden. Mehr als genug Zeit für die Erinnerung an dieses kurze dritte Leben. Vielleicht genug Zeit, um sich ein klein wenig mehr mit diesem Tod abzufinden - dem Tod eines Neugeborenen, weil sein Herz versagte im Augenblick des Eintritts in die Welt von Kälte und Licht.
Es ist kalt und windstill; vermutlich wird es noch keinen Rauhreif geben in der kalten Stunde vor Sonnenaufgang, obwohl es sicher schön wäre, sein Entstehen zu beobachten.
Sie schwebt im Wipfel, läßt in Gedanken die Beine baumeln und sieht nach Osten.
Ihr Körper, weit hinten im Haus, seufzt und rollt sich im Schlaf tiefer in seine Decke.

florian weller nov MMI

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