Schaut weg!

Wenn man die Nase ans Fenster in der S-Bahn-Tür drückt, so daß man mit den Augen ganz nah am Glas ist, dann kann man aus den Augenwinkeln sehen, wie das Fenster immer undurchsichtiger wird vom Dagegenatmen. Irgendwann sieht man gar nichts mehr; dann muß man die Luft anhalten, bis es verschwindet, oder mit den Fingern drüberwischen, aber das gibt Streifen. Mama sagt, ich soll mein Gesicht nicht aufs Glas drücken, weil das schmutzig ist. Aber jetzt redet sie grad mit jemandem, also hauche ich weiter und schaue raus. Man kann auch Figuren aufs beschlagene Glas malen.
Draußen sausen im Tunnel lauter seltsame Sachen vorbei. Viele sind rot-weiß bemalt, Türen und Schilder und Kästen. Lampen sehen aus wie Striche, außer ich drehe den Kopf mit. Da kommt eine ganze Reihe von Lichtern; ich versuche sie alle einzeln zu sehen, man muß dazu ganz schnell mit dem Kopf wackeln. Es macht schwindelig. Der Mann mit der lila Jacke neben Mama schaut runter zu mir und dann wieder in sein Buch. Es ist ein Drache drauf, nur aus Knochen, die ziemlich durcheinander liegen. Vielleicht kann ich heute auch noch einen Drachen sehen, also guck ich wieder raus und wünsche mir einen. Ich sehe die Drachen nur ganz selten, immer nur hier im Tunnel. Es hört sich jedesmal an, als kommt einer: es zischt, erst leise und dann immer lauter, und alles wackelt, und dann knallt plötzlich die Tür nach innen, und man kriegt sie an den Kopf, wenn man nicht aufpaßt. Dann ist es meistens doch nur eine S-Bahn, mit hellen Fenstern, die nach hinten verschmiert sind. Aber wenn es ein Drache ist, sieht man die einzelnen Schuppen ganz genau, jede einzelne. Und weil die Augen leuchten, sieht man sie auch, obwohl’s dunkel ist und der Kopf schnell vorbei ist.
Ich glaube, es ist nur dann ein Drache, wenn niemand anders schaut. Wenn viele Kinder da sind, habe ich noch nie einen gesehen - irgendwer schaut dann immer aus dem Fenster, und es kommen nur dämliche alte S-Bahnen. Einmal war’s ein Drache, der vorbeigedonnert ist, mit hellroten Schuppen und großen goldenen Flecken, wie Feuer, und dann hat Mama was zu mir gesagt und sich umgedreht und er ist plötzlich zur S-Bahn geworden. Die Leute in den Fenstern haben alle so verdutzt ausgesehen, als würden sie sich wundern, wo sie denn auf einmal herkommen. Ich hab mich auch gewundert. Aber heute kommt keiner.
Die Ansagerstimme gurgelt, aber ich verstehe sie kaum. Ich frage Mama, ob der Zugführer mit vollem Mund redet. Sie lacht und sagt, das glaubt sie auch, und wir müssen hier raus. Keine Ahnung, woher sie das weiß, ich habe nur „wowawatzndstation" verstanden. Ich lege die Hand schon mal auf den Öffnungsknopf, damit ich aufmachen kann, und als die Bahn stehenbleiben, bin ich als Erste draußen. Während wir am Bahnsteig nach vorne zur Rolltreppe gehen, tippe ich mit der linken Hand gegen die Fenster. Das gibt schwarze Fingerspitzen. Ich wünschte, die Fenster würden sich anfühlen wie die Schlange, die ich im Zoo gehalten habe - wie ein warmer Seidenstrumpf, fest und glatt. Aber die ganzen Leute hier gucken natürlich nie alle auf einmal weg.

Vor der Rolltreppe müssen wir anstehen. Niemand nimmt die normale Treppe daneben. Das würde ich auch nicht. Die S-Bahn steht immer noch neben uns; ich könnte ins Führerhaus schauen, wenn ich größer wäre. Ich hüpfe ein bißchen hoch, aber es ist nichts drin zu sehen. Vor uns kracht plötzlich was; ich drehe mich schnell zur Rolltreppe und sehe einen Haufen Leute darauf herumpurzeln, wie Dominosteine. Die Stufen fahren nicht mehr nach oben, wahrscheinlich sind sie mit dem Krachen stehengeblieben, und alle, die drauf standen, sind umgefallen. Es ist plötzlich sehr laut. Die auf der Treppe rufen, die davor rufen zurück, und Mama hat meine Hand losgelassen. Keiner schaut zur Seite. Ich mache kurz die Augen zu und sage „Wünsch-wünsch-wünsch", weil das manchmal hilft, und schaue zur S-Bahn, und es ist ein Drache.

Er ist braun und glänzend wie Schokolade, mit orangenen Streifen, die im Zickzack nach hinten laufen. Seine Schuppen sind vorne groß wie Teller und werden nach hinten immer kleiner; hinten, wo der Bahnsteig zu Ende geht, kann man gar keine einzelnen mehr erkennen, und sie bilden dünne Kreise und Kringel. Ich stehe direkt neben seinem Kopf, der ist voller Stacheln und Dornen und Hörner, aber die meisten sind stumpf. Mit einem Auge schaut er mich an. Er muß ein bißchen nach oben schauen, weil ich oberhalb der Rinne stehe, in der er liegt. Er zwinkert und rollt mit dem Auge - gut, daß er das kann, denn da unten kann er den Kopf ja nicht drehen. Ich gehe noch ein paar Schritte weiter und rutsche dann vom Bahnsteig vor ihm in die Rinne, damit ich ihn von vorne sehen kann. Der Boden hier unten ist komisch. Ich dachte, da wären Gleise, aber jetzt ist es Erde mit toten Blättern und Tannenzapfen und vielen dicken Wurzeln; und die Zigarettenkippen, die die Leute immer reinwerfen, obwohl sie nicht sollten, sind auch weg. Rechts ist alles aus dunklen Baumstämmen, die mit ihren Ästen über uns ein Dach machen. Es sieht aus wie der Hohlweg, aus der Geschichte mit dem kopflosen Reiter, der dann ein Radfahrer mit Regenmantel ist. Man sieht nur nicht viel vom Weg, weil der Drache ihn ausfüllt.
Er schaut mich jetzt mit beiden Augen an; sie leuchten sehr hell. Ich sehe gar nicht, ob er einen Mund hat, aber dann fragt er mich, ob ich den Weg entlang mitkommen will, und dabei habe ich gar nichts gehört. Ich sage natürlich sofort „Ja", weil ich hoffe, daß ich auf ihm reiten kann, wenn er schon mal so lang da ist. Er fängt auch sofort an, auf mich zuzugleiten, und senkt den Kopf, damit ich rauf kann. Das sieht lustig aus, weil er eigentlich keinen Hals hat. Ich klettere über seine Stirn, sie fühlt sich an wie unser Ledersofa, und als ich oben auf seinem Kopf bin, ist er schon ziemlich schnell unterwegs. Am Rand des Wegs steht Mama - sie schreit irgendwas und fuchtelt rum, aber dann ist sie schon fast zu klein zum Erkennen, und ich meine, sie wird auch allein nach Hause gehen können. Ich komme dann nach.
Der Drache fragt, ob wir zu schnell sind, und ich sage Nein, es gefällt mir. Am Boden unter uns rasen lauter seltsame Pilze vorbei, und neben und über mir, ganz nah, sind Blüten in allen Farben. Mir kommt eine gute Idee, ich hab da diesen Sommer was gelernt...

Die Teeküchen in Krankenhäusern sehen auch nicht anders aus als in jedem beliebigen Bürogebäude: ein paar ungnädig bereitgestellte Quadratmeter Grundfläche, mattweiße Hängeschränke, Stapel von Kaffeefiltern, und anscheinend hatte niemand Lust zum Abwaschen. Die Ärztin, die sich in ihrem schwungvollen Eintritt durch den Mangel an sauberen Kaffeetassen gehemmt sah, durchforstete knurrend alle Fächer und extrahierte schließlich das letzte brauchbare Exemplar aus einem Haufen ungespülten Geschirrs. Bevor sie sich der Kaffeemaschine zuwandte, steckte sie noch einmal den Kopf vor die Tür und bemerkte den Gang hinunter, „‘Nein’ genügt nicht. Komm’ rein und rechtfertige dich!"
Sie schenkte sich ihre Tasse ein und trat dann ein Stück zur Seite, um dem schnurrbärtigen Assistenten Platz zu machen, der sich mit leidendem Gesichtsausdruck hereinschob. Seine Suche förderte nur noch ein Espresso-Tässchen zutage, das er schicksalsergeben bis zum unerheblichen Maximum füllte. Er nippte schweigend.
Die Ärztin fixierte ihn. „Also? Was hält dich davon ab, rüberzugehen und mit der armen Frau zu reden? Du hast doch auch Kinder!"
Der Assistent zog eine Grimasse. „Das liegt mir einfach nicht. Ich nix Seelenklempner, ich Assistent. Die häßlichen Sachen überlasse ich euch Diplom-Metzgern." Er leerte sein Täßchen und angelte nach der Kaffeekanne, vorbei an der stirnrunzelnden Frau.
„Du bist ein Feigling", teilte diese ihm über den Rand ihrer Tasse mit. „Es geht nur darum, ihr zu sagen, wie es um ihr Mädchen steht, und ihre Fragen zu beantworten, bevor sie uns wieder zusammenbricht."
„Na, du bist gut!" empörte sich der Assistent. „Ich weiß ja selber nicht, was los ist! Was sind denn zum Beispiel diese weißen Dinger, die ihr da wie rohe Eier herumgereicht habt?"
Die Ärztin seufzte. „Ja, der Chef will möglichst wenig rumerzählt haben, wir werden ja jetzt schon von den Zeitungen belagert. Dem Idioten von BILD hat unser Aushilfsgorilla von der Pforte übrigens schon eine gesemmelt, wegen Hausfriedensbruch." Sie grinste. „Okay, aber dann gehst du auch rüber und redest mit ihr, ja?"
Der Assistent nickte zögernd.
„Also... erinnerst du dich an den S-Bahn-Surfer von vor zwei Wochen - den es in Pasing vom Zugdach gefegt hat, Beckenbruch etcetera? Weißt du noch, was sie dem aus dem Trizeps operiert haben?" Der Assistent lüpfte eine Augenbraue - „Ähhm... irgendwas aus Keramik, oder?"
„Genau, ein kleiner Keramikzylinder, ungefähr so groß wie dein Tässchen da." Sie deutete mit dem Henkel. „Ein Isolator aus der Oberleitung. Links ein paar tausend Volt, rechts ein paar tausend Volt, in der Mitte zur Befestigung eine schöne scharfe Stahlkrampe. Die ", fügte sie hinzu und nahm einen Schluck, „hatte der Knabe im Schlüsselbein. Und weißt du was?" Ihr Blick folgte unwillkürlich der Hand des Assistenten, der seine Espressotasse nach einem zweifelnden Blick auf dem Tisch deponierte. „Von diesen Dingern hatte das Kind ein rundes Dutzend."
Der Assistent zuckte irritiert mit den Schultern. „Und? Die kann sie doch sonstwo aufgesammelt haben."
„Eben nicht!" Die Ärztin wedelte mit der Linken erregt durch die Luft. „Was meinst du denn, warum da so ein Chaos ausgebrochen ist - warum sie den Triebwagen nicht stoppen konnten? Hinter dieser S-Bahn ist doch das ganze Stromnetz zusammengefallen, quer durch die ganze Innenstadt! Und das aus dem einfachen Grund, weil auf guten drei Kilometern Länge ungefähr jeder zehnte dieser Isolatoren entfernt worden ist! Angeblich standen teils sogar die Gleise unter Strom, ist halt alles zusammengeschmolzen. Warte." Sie hob die Hand, und ihr Gegenüber schloß den Mund, den er zu einer Frage geöffnet hatte. „Das wirklich Erschreckende ist meines Erachtens noch was anderes - nämlich daß das Mädchen offensichtlich nicht nur die Isolatoren runtergepflückt hat, ohne auch nur die kleinste Verbrennung abzubekommen, sondern die besagten Stahlklammern - und die sind dick, kann ich dir sagen - verbogen hat - verflochten - mit bloßen Händen, soweit wir das sagen können... zufrieden?"
Der Assistent schluckte. „Äh... und das soll ich der Mutter erzählen?"
„Natürlich nicht! Sei diplomatisch. Ich meine, die Frau hat sowieso Bluthochdruck. Ferndiagnose." Sie lächelte in ihre Tasse, schloß kurz die Augen und trank den letzten Schluck. „Du kannst ihr sagen, ihre Tochter spielt gerade Lego und terrorisiert den Nachtdienst. Was auch sonst um - " sie warf einen Blick auf die Wanduhr - „oh je, halb drei in der Früh? Ich sage dir, das Mädchen braucht keinen Schutzengel, die ist aus Gußeisen."
„Hmm." Der Assistent trat auf den Gang hinaus. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. „Sagt eigentlich die Kleine, was sie mit ihrer Keramiksammlung anfangen wollte? Habt ihr sie gefragt?"
„Oh nein, war nicht nötig, sie wollte damit angeben. Gänseblümchenkette." Die Ärztin blickte ihn mit unschuldigen Augen an. „Tscha. Hat sie diesen Sommer gelernt."

florian weller Sept MM

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