Schneeschmelze

Ich war gerade dabei, die Federn der Eule auszufransen, als der Kojote sich umdrehte und mir einen Zettel auf einem silbernen Teller reichte.
Zuerst war ich ziemlich verärgert, daß er das Tableau gebrochen hatte. Ich hatte eine Ewigkeit gebraucht, um ihn im Netz der Schwingungslinien so zu postieren, wie ich ihn haben wollte. Nachdem ich ihm den Teller abgenommen hatte, drehte er sich zwar wieder in die Ursprungsposition zurück, aber ich war irgendwie empört darüber, welche Freiheiten sich das Haussystem mit meiner Installation herausnahm. Natürlich hatte ich das selber so eingestellt, trotzdem erschien es mir ungehörig. Hoffentlich war die Nachricht zumindest die Unterbrechung wert. Ich warf einen Blick auf den Zettel.
In schnörkellosen Buchstaben stand darauf geschrieben: „ delta T über 3 Stunden: + 4,4 °C ".
Natürlich wachte ich sofort auf.

Ich hatte der Installation „Drei Anfänge" eigentlich den gesamten Schlaf dieser Nacht widmen wollen. Traumarbeiten fallen bei mir selten an; das Arbeiten an Entwürfen im Schlaf eignet sich viel eher für rein optische Objekte als für mein spezielles Gebiet. In diesem Fall war ich ein Risiko eingegangen und hatte meine nicht sehr ausgeprägten visuellen Fähigkeiten mit in die Waagschale geworfen, um eine echte Synästhesie-Skulptur zu schaffen. Das Bild des indianischen Mythos von Kojote, Eule, und Seele, die mit ihrem Gesang zusammen die Welt aus dem Nichts erschaffen, gefiel mir sehr. Aber das würde jetzt warten müssen.
Noch bevor ich die Augen öffnete, krächzte ich eine Anfrage nach der Uhrzeit heraus. Zwar war ich übergangslos aufgewacht, als ich das entsprechende Kommando gedacht hatte, aber meine Stimmbänder kamen nicht so schnell wieder auf die Beine wie mein Bewußtsein. Das Haussystem, gewöhnt an unverständliche und beleidigend formulierte Befehle, kam meinem Wunsch jedoch nach und antwortete mit John Waynes Stimme: „2 Uhr 31, Partner!"
Ich stöhnte. War es denn nicht vorauszusehen gewesen? Ein klassisches Zusammentreffen unglücklicher Umstände, wie jedes Mal, wenn ich mich auf einen engen Zeitrahmen für ein Projekt einließ.
Der Temperatursprung von mehr als vier Grad bedeutete, daß wir sofort aktiv werden mußten - in ein paar Stunden würde schon alles vorbeisein. Zum Teufel, hätten es nicht gemäßigte ein oder zwei Grad sein können?
Die nächtliche Uhrzeit wiederum bedeutete, daß die sorgfältig geknüpften Verbindungen, mit Bedacht formulierten Schreiben und vorsichtigen Anfragen der letzten Wochen jetzt völlig wertlos waren. Um drei Uhr nachts war im Staudamm mit Sicherheit keine Menschenseele mehr anzutreffen. Und auf gar keinen Fall wäre einer der Leute zugegen, die zugestimmt hatten, uns herumzuführen und letztlich aufzupassen, daß wir kein Tafelsilber klauten. Um ihren guten Willen zu demonstrieren, hatten sie meine Partnerin schon mit einer Zugangskarte ausgestattet. Und diese Karte würden wir jetzt gründlich mißbrauchen müssen. Wie wäre es denn mit einer schön langsamen, vorhersehbaren Erwärmung irgendwann am späten Vormittag gewesen, vorzugsweise nicht zu knapp vor dem Mittagessen? Natürlich nicht.
Ich rollte aus dem Bett und knurrte mein Verlangen nach einer Sprechverbindung mit Elisabeth heraus, bevor ich ins Bad tappte. Der dritte unglückliche Umstand erwischte mich in der Türöffnung: ihr Anrufbeantworter teilte mir freundlich mit, daß meine Künstlerkollegin und Teilhaberin an unserer Galerie für ein oder zwei Tage zum Bergwandern gefahren sei und hoffe, der Anrufer möge sein Anliegen als Nachricht hinterlassen und auch sonst noch einen wunderschönen Tag verleben.
Ich nahm das Angebot an, steckte meinen Kopf aus der Türöffnung und ließ drei Minuten lang alle Schimpfwörter und Obszönitäten abrollen, derer ich mich entsinnen konnte. Als mir die Luft ausging, bedankte sich die Stimme mit ungetrübter Herzlichkeit für die erhaltene Mitteilung und trennte die Verbindung. Während ich mir eiskaltes Wasser ins Gesicht spritzte, ging mir auf, daß Elisabeth von meiner Schimpfkanonade vermutlich nur einen Haufen Piepstöne zu hören bekommen würde. Sie hatte Kinder, besaß zusätzliches ein zartes Gemüt und hatte deshalb einige sehr kleingeistige Zensurmechanismen installiert. Nun, meine Hauptaussage war hoffentlich durchgekommen - und zwar, daß ich es ihr sehr übelnahm, ohne ein Wort mit unserer einzigen Zugangsmöglichkeit zum Staudamm in den Urlaub zu verschwinden.

Ich bildete mir ein, den Schnee draußen schon von den Dächern tropfen zu hören. Das Thermometer (besser gesagt, John Wayne) zeigte inzwischen tropische 5 Grad an. Ich war gute zwanzig Minuten lang mit einer erkaltenden Kaffeetasse durchs Haus getigert und hatte gedanklich den dornigen Arm des Gesetzes gegen die zarte Umarmung der Muse abgewogen. War mir die Schneeschmelze einen Hausfriedensbruch wert, voraussichtlich gemeinsam mit einigen unvermeidlichen Sachbeschädigungen?
Die Eiszapfen vor dem Verandafenster überzeugten mich schließlich. Ein halbmeterlanges Stück der tropfenden Zapfenreihe löste sich vor meinen Augen und zerschellte zu Füßen des antiken Keramik-Flamingos, der draußen auf den Fliesen Hof hielt. Das Klimpern der Bruchstücke drang durch das offenen Fenster zu mir herein wie das Lachen der Elfen in der Mittsommernacht; ich kam mir vor wie jemand, der vor der Tür des Konzertsaals den ersten Ton der Violine hört und sich immer noch nicht entscheiden kann, den Eintrittspreis zu bezahlen.
Die Kunst verlangt Opfer. Um meinen Platz in der ersten Reihe zu bekommen, würde ich halt dieses Mal die Tür eintreten müssen.
Ich packte meine Ausrüstung zusammen, machte einen kurzen Abstecher in die Werkstatt im Keller, um eine Spraydose mitzunehmen, warf alles in den Wagen und brach ein paar Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Mehrere Jahre musterhaften Fahrens hatte meinem Führerschein ein hübsches Bonuskonto eingebracht. Als ich mit quietschenden Servos aus meiner Auffahrt schoß, teilte mir der Airbus mit, daß ich mir fünf Geschwindigkeitsüberschreitungen, zwei leichte Beschädigungen öffentlichen Eigentums, eine nicht-kritische Mißachtung einer KI und einen Auffahrunfall mit nicht mehr als zwei Beteiligten leisten konnte. Zu dem Zeitpunkt, als ich von der Schnellstraße abbog, war davon nur noch der Auffahrunfall übrig. Ich hatte ihn zur Eröffnung der letzten Ausstellung vom stellvertretenden Bürgermeister als Geschenk erhalten. Wie man einen Zusammenstoß zur Zeitersparnis beim Fahren einsetzt, war mir allerdings noch nicht aufgegangen. Die Sachbeschädigungen waren da schon leichter einzusetzen - der Airbus äußerte sich sehr sarkastisch über die Stücke von Leitplanken, die seine Stoßstange zierten. Ich brachte ihn zum Schweigen und steuerte von Hand das lange, pechschwarze Serpentinenstück entlang, das zum Stausee hinabführte.
Rund um mich rieselte das Schmelzwasser von den Kiefern. Im Licht der Scheinwerfer funkelten die nassen Zweige wie mit Lack überzogen; hin und wieder riß der Luftzug des Airbus im Vorbeifahren ein Schneepaket aus den schwankenden Ästen, und ich konnte im Rückspiegel die Tropfen in alle Richtungen fliegen sehen. Nach fünf Minuten eiliger Fahrt tauchte die dunkle Wasserfläche des Sees zwischen den Baumstämmen auf; dreißig Sekunden später brachte ich den Wagen in einem Hagel von Kieselsteinen vor dem Einfahrtstor des Dammgeländes zum Stehen. Ich stieg aus und spähte durch die Maschen des mehr als mannshohen, stacheldrahtbewehrten Metallzauns.

Ein kurzes Stück Straße führte zum befestigten Ufer hinunter und endete bei einem flachen Gebäude, das aus den seitlichen Fundamenten der Dammkrone herauszuwachsen schien. In diesem Gebäude befanden sich, wie ich wußte, die unbemannte Rezeption und die Lifte, welche die Angestellten zum Kontrollkomplex am Boden der Trockenseite brachten. Die Lifte waren um diese Uhrzeit natürlich abgeschaltet, das Rezeptionsgebäude und die Kontrollräume sicherlich fernüberwacht. Wahrscheinlich schlief sich dort auch mindestens ein Wachmann durch seine Spätschicht. Zum Glück lag mir gar nichts daran, mich dort unten herumzutreiben. Mein Interesse galt dem Damm selbst und seinem mechanischen Innenleben. Dort spielte sich momentan das ab, weswegen ich gekommen war.
Ein Blick auf die Uhr - Viertel vor Vier, und unverschämte sechseinhalb Grad Lufttemperatur! Die Zeit drängte. Ich angelte meine Utensilien aus dem Auto, trug dem Airbus auf, brav die Klappe zu halten und ja keinen „ökonomischeren" Parkplatz aufzusuchen, weil es hier garantiert keinen gab, der nicht ein Dutzend Meter unter Wasser lag, und begab mich zum Einfahrtstor.
Ich muß zugeben, daß mir zu dem Zeitpunkt ein bißchen flau im Magen wurde. Es ist nicht so, daß ich jeden Tag einen Einbruch begehe; über die Konsequenzen war ich mir nicht wirklich im klaren. Zwar hatte ich nicht vor, etwas zu stehlen, aber von den großen „Betreten verboten!"-Schildern, die am Zaun angebracht waren, fühlte ich mich durchaus angesprochen.
Der Anblick des Tors dagegen wirkte eher beruhigend. Offensichtlich machten sich die Verantwortlichen wenig Sorgen darüber, jemand könnte sich mit dem Damm selbst davonmachen. Die Sicherheitsmaßnahmen waren um die Lifte und in den Büros konzentriert - wie ich gesehen hatte, bis zur Ebene der Retinamuster und Stimmerkennung. Die Zufahrt, und damit der Zugang zur Dammkrone, war dagegen nur mit einem simplen Metalltor gesichert. Nicht einmal das Schloß war elektrisch.

Im Licht der Scheinwerfer holte ich die dickwandige Spraydose hervor und schüttelte sie ein paar Mal - nicht, daß flüssiger Stickstoff je verklumpen würde, aber beim Dosenschütteln vor dem Betätigen des Sprühknopfes muß es sich um einen tief verwurzelter Urinstinkt handeln. Wahrscheinlich hat schon Van Gogh den Pinsel geschüttelt und den Kopf halb abgewandt, bevor er den ersten Strich auf der Leinwand tat.
Mir war nie ganz klar, auf welche Weise der Stickstoff in diesen Dosen kalt gehalten wurde. Im Boden mußte sich irgendeine Art von Kühlaggregat befinden; wenn man die Dose jedes halbe Jahr für einige Minuten an einen Starkstromanschluß anstöpselte, hielt sich der Inhalt praktisch ewig (außerdem explodierten sie ziemlich spektakulär, wenn sie in Brand gerieten. Das Arbeiten mit Schweißgerät und Gefrierätzung barg so seine Tücken.).
Ich besprühte das Schloß großzügig. Die feuchte Luft ließ sofort einen dicken Pelz von Rauhreif aus dem Stahl sprießen. Ich trat zurück, wartete einige Sekunden und verpaßte dann dem Tor einen kräftigen Tritt mit dem Absatz.
Ich mußte die Prozedur noch einmal wiederholen, bevor das spröde Metall nachgab und das Tor aufschwang. Der abgebrochene Riegel blieb im Schloß zurück. Ich nahm meine Tasche und schritt hindurch; dann schaltete der Airbus, immer aufs Energiesparen bedacht, die Scheinwerfer aus, und in der plötzlichen Dunkelheit wäre ich fast auf die Nase gefallen. Ich fluchte und verpaßte mir ein paar mentale Ohrfeigen. Natürlich hatte ich nicht daran gedacht, eine Taschenlampe mitzunehmen. Zwar konnte ich dem Wagen befehlen, mir hier draußen Licht zu spenden, aber im Inneren des Damms würde mir das auch nichts nützen. In der Hoffnung, daß drinnen zumindest eine Notbeleuchtung brenne, stolperte ich in der nur schwach sternbeleuchteten Finsternis um das Liftgebäude herum. Ich entdeckte die perforierten Stufen der Hühnerleiter, die auf die Dammkrone führte, bevor ich mir die Schienbeine daran brechen konnte, und stieg sie vorsichtig empor.

Ich hatte diesen Staudamm immer für sehr eindrucksvoll gehalten. Etwas mehr als zweihundert Meter hoch, fiel er auf der Trockenseite senkrecht ab; eine glatte Wand aus Stahlbeton von den Ausmaßen eines auf die Kante gestellten Flugfeldes, an deren Basis der Ausfluß des Stausees hervorschoß. Das ganze Bauwerk war eine sehr schmale, fast fragil wirkende Angelegenheit, keine mächtige Aufschüttung wie der Assuan-Damm, der eher an eine verirrte Endmoräne erinnert. Nein, diese Talsperre hielt die Wassermassen hinter sich wie das dünne Porzellan einer Teetasse, wie eine Membran.
Daß man sie auch mit einem Trommelfell vergleichen konnte, war offenbar nur Elisabeth und mir aufgefallen.
Auf beiden Seiten säumten Geländer den Grat. Zu meiner Rechten, etwa drei Meter tiefer, klatschten matte Wellen an Beton; links konnte ich in das mit sporadischen Lichtern gesprenkelte Tal hinuntersehen. Die schmale Straße der Dammkrone erstreckte sich vor mir in die Dunkelheit. Ungefähr fünfzig Schritte entfernt war in der Mitte des Übergangs eine Erhebung auszumachen. Sie wirkte aus der Entfernung wie eine Souffleurmuschel und barg, wie ich wußte, einen Eingang ins Innere der Ultrastruktur. Ich näherte mich ihr mit lauernder Besorgnis. Falls es sich hier um ein Gleittor oder eine Panzertür handeln sollte, konnte ich mich gleich wieder unverrichteter Dinge davonmachen.
Der Eingang war tatsächlich von einer schweren Stahltür versperrt, deren Schließmechanismus allerdings offenbar schon länger den Geist aufgegeben hatte. Ein anachronistisch anmutendes Magnetschloß mit Fingerabdruckserkennung, das hier Ersatzdienste versah, zerbröckelte nach mehreren Behandlungen mit Stickstoff zu einem Häufchen Plastikkrümel.
Eine steile Stahltreppe führte dahinter in die Tiefe. Erfreulicherweise waren die Wände des Schachts in weitem Abstand mit roten Leuchtpunkten besetzt. Unten angekommen, stellte ich fest, daß diese sich auch in den Gängen fortsetzten. Langsam begann ich wieder an mein Glück zu glauben. Um es nicht zu verspielen, bemühte ich mich, möglichst schnell diesen Korridor gedanklich in den Kurs der einzigen Führung einzupassen, die ich hier mitgemacht hatte. Trotz einiger Zweifel entschied mich schließlich für eine Richtung.
Mein Gedächtnis ließ mich nicht im Stich. Zusätzlich zu dem Wissen, daß ich vor allem nach unten und in die Mitte des Dammes mußte, fanden sich hin und wieder kryptische und sehr kurz gehaltene Wegweiser. In einem Bemühen um Effizienz, um das sie mein Airbus sicher beneidet hätte, hatten die Erbauer mein Ziel auf den Schildern mit „ -P " bezeichnet. Nachdem ich dies erst einmal verstanden hatte, stand ich nach wenigen Minuten, vielen Treppen und mit schmerzenden Beinen vor dem invertierten Pendel.

Ich befand mich auf dem Grund eines breiten Schachtes, der, wie ich wußte, die gesamte Höhe des Damms vom Fundament bis zur Krone durchmaß. In der Mitte wuchs eine vielleicht armdicke Säule aus halbdurchsichtigem Kunststoff empor und verlor sich weit oben im rötlichen Dämmerlicht. Sie enthielt das Pendel, eine 200 Meter lange, frei schwingende Stange aus einer erstaunlichen teuren und unaussprechlich benannten Legierung. Wie unser Führer damals erklärt hatte, diente der ganze Apparat zum Aufspüren von Bewegungen im Gefüge des Bauwerks selbst. Der extrem lange Hebelarm setzte alle noch so schwachen Erschütterungen in ein meßbares Ausschlagen um, dessen Ausmaß durch einen Laser an der freien Spitze gemessen wurde. Angesichts der Wassermassen des Stausees fühlte ich, daß ich diesem Aufwand durchaus zustimmen konnte. Im Vergleich zu ihnen war der Damm schließlich nicht dicker als die Haut einer Seifenblase. Es war stolz betont worden, daß ein Erdbeben in der Türkei hier ebenso wenig unbemerkt blieb, wie ein unterseeischer Hangrutsch an einem der nahen Ufer.
Bei dieser Äußerung hatte ich damals meine Ohren aufgestellt. Hier bot sich ein Instrument, daß wie geschaffen schien für eines meiner lang gehegten Wunschprojekte: das klangliche Porträt eines ganzen Sees.

Klangskulpturen waren noch immer ein gewisses Novum. Die Öffentlichkeit war an virtuelle Installationen gewöhnt, die sich auf visuelle Eindrücke konzentrierten. Töne spielten hier nur eine Nebenrolle. Ich war immer schon der Meinung gewesen, daß man dem Hörempfinden hiermit Unrecht tat. Töne und Geräusche können ein ebenso detailliertes Raumempfinden vermitteln wie Seheindrücke; oft sogar ein stärkeres, da wir es gewöhnt sind, aus Gehörtem stärker denn aus Bildern zu extrapolieren. Außerdem ist das Empfinden hier kaum wegbeschränkt - Informationen können aus allen Richtungen aufgenommen werden, und die Phantasie tut ein Übriges.
Meine bisherigen Klangarbeiten waren zum Großteil enthusiastisch aufgenommen worden. Mit dem Staudammprojekt wollten Elisabeth und ich uns einige Schritte in der Größenskala nach oben bewegen. Das Belauschen eines ganzen Sees, mit dem Äquivalent eines Ohrs von einem halben Quadratkilometer Fläche - was sich hier für Möglichkeiten der Klanggestaltung ergaben! Als Zeitpunkt hatten wir uns auf die beginnende Schneeschmelze geeinigt. Dann würde der gesamte Wasserkörper erfüllt sein von den Geräuschen der neuentstandenen Rinnsale und der wiederbelebten Zuflüsse, so malten wir es uns aus. Verbindungen waren geknüpft worden, um die Aufnahme zu ermöglichen; in ein paar Tagen wären alle Vorkehrungen getroffen gewesen. Dann war Elisabeth mit unserer einzigen legalen Zugangsmöglichkeit ins Alpenglühen verschwunden, und das Tauwetter hatte mich in tiefster Nacht sozusagen kalt überrascht. Doch bevor ich ein solches Projekt sterben lassen würde, müßte sich mir schon mehr Opposition entgegenstellen als eine Anklage wegen Einbruchs... ich zog es vor, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen.

Am Fuß der Säule ragte ein dünner, glänzender Metallbolzen aus dem Kunststoffmantel und überbrückte die kurze Entfernung zur Wand. An dieser Stelle endeten die Bündel aus Verstrebungselementen, die den ganzen Damm durchzogen; der Stutzen übertrug ihre Schwingungen auf das Pendel. Dies war der Hörnerv, an dem ich mithorchen wollte...
Ich entnahm meiner Tasche das Aufnahmedeck, kniete nieder und wickelte die lappenartigen Sensoren der beiden Eingangskanäle um den Metallstift. Um ihren Halt zu überprüfen, ruckte ich einmal kurz an Kabeln.
Nicht einmal sehr fest. Aber trotzdem konnte ich im Dämmerlicht erkennen, wie der Bolzen ein paar Millimeter aus der Wand heraus- und wieder zurückschnellte. Ich warf einen schnellen Blick auf die Säule - und glaubte in ihrem Inneren schwach eine kurze, ausschwingende Bewegung wahrzunehmen.
Verdammt. Wahrscheinlich hatte ich dem Pendel gerade den Eindruck eines wirklich katastrophalen Erdbebens vermittelt. Ich schnitt eine Grimasse und zischte halblaut den noch verbliebenen Rest meines Lagerbestands an Flüchen heraus, während ich mir vorstellte, wie in den Kontrollgebäuden die Alarmlichter ansprangen. Mein Zeitrahmen hatte sich damit vermutlich auf ein paar Minuten verkürzt.
Ich setzte also schleunigst das Hörerset auf und angelte nach dem externen Mikrofon. Dann schaltete ich auf Aufnahme; um eine ruhige Stimme bemüht, sprach ich den Titel auf:
„Schneeschmelze. Eine Live-Installation."
Dann begann ich zu lauschen.

Der See empfängt mich mit einem glitzernden Kichern, zart aber unaufhörlich: Tropfen, die entlang der Krone des Damms ins Wasser stürzen.
Ebenso hell: das Klimpern der winzigen Eisschollen, die sich auf trägen Windwellen an der Betonflanke reiben - das vorsichtige Klatschen der Wellen selbst ist ein tieferes Begleitthema, eine Einleitung für das lichtlose Brausen der ganzen Wassermasse. Ich lasse es nach oben steigen, sich ausbreiten; ich versuche, kurz, wie von Blitzlichtern erhellt, einzelne Komponenten heraustreten zu lassen...
Das Klappern einer kleinen Kiesellawine an einem weit entfernten Ufer setzt plötzliche Akzente. Irgendwo schabt etwas Weiches an Stein - totes Holz, in einer Bucht gefangen? Jeder Fleck, den ich isoliere, spricht mit seiner eigenen Sprache; eine Zeitlang lasse ich sie einfach vorbeigleiten, ohne Betonung, nur mit ihren eigenen Worten.
Kurz tuckert ein Generator, schiebt sich grell über das schläfrige Murmeln gleitender Schlammschichten, das allem unterliegt. Ich ziehe das mechanische Geräusch in den Vordergrund und leite über zu den Tönen des Damms selbst, die ich bis jetzt unterdrückt habe: das Knarzen des Stahlbetons; das beständige Wimmern der Spannung in den Verstrebungen, bis hin zum metallischen Flüstern auf kleinster Ebene; dazu ein rhythmisches, stampfendes Geräusch, erstaunlich in seiner Regelmäßigkeit. Ich halte dieses eine Element fest, lasse den Damm wieder in den Hintergrund treten und erlaube endlich dem Hauptthema, die Bühne zu übernehmen: Tauwasser. Klimpernd, klirrend, nasses Rascheln, trockenes Glucksen, Rinnsale, Bäche, Wasserfälle; kichernd, plaudernd, lachend, froh über das Ende des eisigen Schweigens, froh darüber, es aller Welt mitteilen zu können.
Ich höre nur noch zu.

Etwas Kaltes, Hartes preßte sich von hinten in meinen Nacken. Eine grobe Stimme knurrte: „Nehmen Sie dieses Ding vom Kopf! Aufstehen! Was zum Teufel tun Sie hier unten?"
Aus einem Ozean von Wassergeräuschen tauchte ich mühsam an die Oberfläche. Wie viel Zeit war vergangen? Vermutlich nur ein paar Minuten ... es war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Die Stimme des Wachmanns verlangte wieder meinen Namen und eine Rechtfertigung für mein Hiersein. Zeit, das Projekt abzuschließen. Ich hob das Mikrofon - der Druck der Pistolenmündung in meinem Nacken verstärkte sich reflexartig - und sagte langsam und deutlich: „Schneeschmelze. Eine Live-Installation von Onomatopoeticon."
„Was?", tönte es hinter mir. „Wie heißen Sie?"
Ich nahm auch das noch auf. Schließlich, wie mir gerade klar wurde, hatte ich seine Schritte sogar mit in die Skulptur eingebaut. Künstlerische Integrität und das alles, und letztlich schuldete ich ihm zumindest eine namentliche Nennung. Laut sagte ich: „Mitwirkende: ..."; dann drehte ich mich um, lächelte mein strahlendstes Lächeln, hielt dem Gesicht hinter der Pistolenmündung das Mikrofon entgegen und fragte freundlich: „Name und Dienstnummer, bitte?"
Den Gesichtsausdruck konnte ich leider nicht aufzeichnen. Manche Dinge müssen lediglich in der Erinnerung verbleiben.

florian weller april MMI

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