Sonne und Sand

Die Tür bestand tatsächlich aus Leder.
Erstaunt und fasziniert spähte Annic unter das hauchdünne Holzplättchen, das er mit seinem Dolch von der anscheinend soliden Türfläche abgespreizt hatte. Was bei flüchtiger Betrachtung wie polierte Planken wirkte, hatte sich als ein aufwendiges Furnier herausgestellt. Darunter befand sich bretthartes Leder.
Erstaunlich, zu welchen Umständen der Holzmangel in diesem Land die Menschen trieb! Annic grinste. Die steinernen Tische im Gastraum hatte er erwartet, aber hiervon hatte er noch nichts erzählen gehört. Auch dies zählte offenbar zu den Fakten, die man nur selbst herausfinden konnte, die in keinem Reisebericht auftauchten. Pecten-Han, diese riesige, heiße Einöde aus Fels und Sand, war so anders...!
Der Türgriff senkte sich, und die Tür schwang auf. Annic mußte ein paar hastige Hopser zurück machen, um nicht umgeworfen zu werden. Er richtete sich auf und sah Keto hereinschlüpfen; schnell und leise drückte sie die Tür wieder hinter sich zu. Sie warf Annic einen Blick zu und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er kam ihr zuvor. Wie einen Zeigestock richtete er den Griff des Dolchs auf seine Verlobte und bemühte sich um einen zutiefst ernsten Tonfall.
„Hältst du es für möglich, mein Schatz, daß in diesem Land Rinder gezüchtet werden, die genau die Größe einer durchschnittlichen Türöffnung haben? Mit Nüstern in der Form von Schlüssellöchern, und Hörnern, die wie Handgriffe gestaltet sind? Und..." In dem Moment fiel ihm ein, daß der Türgriff tatsächlich aus geschnitztem Horn bestand, und er mußte unvermittelt laut auflachen.
Ketos Augen spiegelten reines Unverständnis. Nach einigen Augenblicken zuckte sie mit den Achseln. Sie war die absurden Gedankengänge ihres Gefährten gewöhnt. Oft machten ihr solche Verrücktheiten selbst Spaß;das war ein Teil dessen, was die Anziehung zwischen ihnen beiden ausmachte. Dazu kam eine gewaltige Neugierde auf alles, was sich jenseits der engen Grenzen ihrer Heimat befand - die fernen Weltgegenden unter den Wendekreisen, die Archipel der Seekönige, die südlichen Steppen und Wüsten... diese Reise hatte schon so viele Überraschungen hervorgebracht. Wer konnte sagen, ob sie nicht auch auf rechteckige Kühe stoßen würden? Oder auf noch viel seltsamere Kreaturen.
Sie deutete mit dem Daumen nach hinten über die Schulter. „Annic, da draußen sitzen drei Wer-Wesen. Wölfe, glaube ich. Zumindest haben sie die passenden Ohren."
In ihrer Stimme erkannte Annic deutlich freudige Erregung, gepaart mit Besorgnis. Die schüchterne Abenteurerin... er fühlte etwas Ähnliches in sich aufkeimen, und räusperte sich.
„Ah? Hast du mit ihnen gesprochen?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe sie nur im Gastraum sitzen sehen. Ein älterer Mann, und zwei jüngere. Ich wollte sie nicht alleine ansprechen. Der einzige Wer, dem ich bis jetzt begegnet bin, ist Sinaton, und der ist ja immer sehr freundlich, aber ich dachte mir..."
Annic nickte zustimmend. Sinaton war ein Büffel, in Menschengestalt ein urbaner, ruhiger Mann von gewaltigen Ausmaßen. Ein langjähriger Freund von Ketos Eltern, hatte er es im Gewürzhandel zu ähnlichem Reichtum gebracht wie diese; er unterhielt ein eigenes Grundstück außerhalb der Stadt, auf dem er vier- oder fünfmal im Jahr ein paar Tage meditierend und wiederkäuend verbrachte. Hin und wieder hatte er bei dieser Gelegenheit die kleine Keto sogar auf sich reiten lassen. Aber das sagte natürlich nichts über den Charakter der Gestaltwandler im Allgemeinen aus. Gerade über die Raubtiere unter ihnen waren gewisse Geschichten im Umlauf... „Ja, laß sie uns lieber zusammen ansprechen. Ähm, du willst doch, oder?"
„Oh ja!", antwortete sie emphatisch. Ihre Augen blitzten. „Unerhört, unglaublich, unfaßbar - du erinnerst dich? Wir haben schließlich ein Konzept auf dieser Reise! Solche Leute dürfen wir nicht auslassen. Nur, laß uns zusammen rausgehen."
Annic fiel etwas ein. „Wenn du nicht mit ihnen gesprochen hast, woher weißt du dann, daß sie Werwölfe sind? Sie werden ja wohl nicht unter dem Tisch sitzen, oder?"
Sie winkte den Einwand fort. „Wenn du sie siehst, wirst du es glauben. Da besteht gar kein Zweifel. Also komm, sonst sind sie vielleicht schon wieder verschwunden!"
Annic ließ einen Blick durch das kleine Zimmer mit seinen blanken Lehmwänden schweifen. Ein rundliches Fenster bot Ausblick auf die gleichermaßen karge, sonnenverbrannte Felslandschaft draußen. Außer den Schirmkristallen, die sie in der Nachmittagssonne ausprobieren wollten, hatten sie noch nichts aus ihrem Gepäck entfernt.
„Tja, viel einzurichten gibt es hier nicht mehr. In Ordnung, laß uns mit den Wölfen heulen. Außerdem habe ich Hunger."

Die drei sahen wirklich raubtierhaft aus.
Annic entdeckte sie sofort, als er und Keto den Gastraum betraten. Der niedrige, aus Lehm und steinernen Stützbögen erbaute Raum war fast leer. Von den monolithischen Steintischen, die entlang der Wände eine Art Feenring aus Basaltpilzen beschrieben, waren nur zwei besetzt; einer von einem mürrisch dreinblickenden Han mit aschgrauem Haar, der andere von einem sandfarben gekleideten Trio mit gewissermaßen füchsischen Gesichtszügen. Durch die kleinen Fensteröffnungen drang nur wenig des grellen Nachmittagslichts herein und zeichnete zerfranste Rechtecke auf den Boden. Im resultierenden Dämmerlicht waren die außergewöhnlich spitzen Ohren der Männer dennoch klar zu erkennen. Ihre Gesichter waren schmal, mit eng beieinander stehenden Augen. Von einem tief in die Stirn gezogenen Ansatz wölbte sich bürstenartiges Haar nach hinten. Die drei nippten von dampfenden Suppenschüsseln und unterhielten sich leise.
Während Annic noch über Möglichkeiten nachsann, die Frage nach der Wolfsnatur ohne Blamage zu klären, nahm Keto die Sache schon selbst in die Hand. Resolut steuerte sie auf den Tisch zu und beugte sich über die rauhe Oberfläche. „Entschuldigt bitte."
Der ältere Mann blickte auf und lüpfte eine fragende Augenbraue.
„Seid ihr Wölfe?"
Annic mußte sich eine schmerzliche Grimasse verkneifen, während er hinzutrat. So viel zu unaufdringlichen Nachfragen.
Zumindest war der Mann seiner taktvollen Gefährtin noch nicht an die Kehle gesprungen. Tatsächlich schien ihn die Frage zu belustigen, er schnaubte amüsiert.
„Nein, ich bin sicherlich kein Wolf, und meine Söhne auch nicht", antwortete er mit hoher, etwas heiserer Stimme.
Annic begann, „Es tut mir leid, ich weiß nicht, wie -", aber der Mann schnitt ihm das Wort ab.
„Wölfe werdet ihr so weit im Süden nicht finden. Wir sind Schakale. Bitte, setzt euch zu uns! Habt ihr gegessen? Die Suppe ist nicht schlecht."

Es handelte sich anscheinend um eine sogenannte „Hundertjährige Suppe", die ihren Geschmack der Tatsache verdankte, daß sie angeblich nie vom Feuer genommen und nie neu angesetzt wurde - der Koch füllte den Kessel nur jeden Tag mit frischen Zutaten auf. Annic war nicht bekannt, wie alt dieses Gasthaus war, aber einige Jahrzehnte mochte diese spezielle Suppe wohl vor sich hin gekocht haben, in ständiger, langsamer Wandlung begriffen wie eine Amöbe. Sie schmeckte ausgezeichnet.
Ihr Gegenüber hatte sich als Aphadefkannekchnit („Apha, bitte! Ihr könnt es sowieso nicht richtig aussprechen") vorgestellt. Er schien um die fünfzig Jahre alt zu sein. Seine Söhne, deren Namen zu nennen er nicht für nötig hielt, schätzte Annic auf Mitte zwanzig. Die beiden hatten kaum von ihren Schüsseln aufgeblickt und konzentrierten sich darauf, die dickflüssige Suppe mit maximaler Effizienz einzuschlürfen. Ihr Vater dagegen gab sich gesprächig. Nach einer intensiven Musterung von Ketos Kleidung, die mit unvollständigem Erfolg von einem weit entfernten Schneider für dieses Klima entworfen worden war, begann er sie sofort über ihre Heimat auszufragen.
Keto hatte etwas Mühe, ihm das Konzept einer Vergnügungsreise glaubhaft zu machen; er schien tiefere Motive zu vermuten. Als sie das Gewerbe ihres Vaters erwähnte, meinte Annic seine Ohren sichtlich nach oben zucken zu sehen. Apha kniff die Augen zusammen und beugte sich vor.
„Gewürze, ja. Sagt, ihr habt nicht zufällig schon einmal etwas von Mittagssand gehört?"
Zu Annics Überraschung bejahte Keto diese Frage. „Sinaton - ein Freund meines Vaters - handelt noch mit kleinen Mengen davon. Soweit ich das mitbekommen habe, wird die Nachfrage immer geringer. Die Leute kaufen lieber Kayphey."
Zur Erklärung fügte sie, an Annic gewandt, hinzu, „Kayphey kommt aus den westlichen Tropen, es ist eine Art Nuß, die man zerreibt und aufkocht. Sie macht wach und aufmerksam. Mittagssand ist angeblich stärker, aber er schmeckt wohl ziemlich scheußlich, und man muß ihn trocken schlucken. Mineralisch, glaube ich." Dann, in einem offensichtlichen Bemühen, den Spieß des Ausfragens umzudrehen: „Sinaton ist auch ein Wer, ein Büffel. Bei uns gibt es nicht viele von eurer Art, ist das hier anders? Lebt deine Familie auch hier?"
Aber Apha schien ihre Auskunft verstimmt zu haben. Er knurrte vor sich hin. „So, ein Büffel. Jemand, der sein Alter in einer Schlammkuhle verbringen kann, zivilisationsfrei." (Annic bildete sich ein, etwas wie Neid herauszuhören.) „Und Mittagssand ist nichts mehr wert, wie? Nun, hier hat noch nie jemand etwas von irgendwelchen Nußbrühen gehört, hier ist er noch sehr begehrt. Man kann davon leben. Hier,", er klopfte mit einer langfingrigen Hand auf den Ranzen, der neben ihm am Steintisch lehnte, „das ist feinste Ware, glasklar, in großen Kristallen. Du hättest nicht Lust, ein gutes Geschäft für deinen Vater zu machen?"
Annic schaltete sich ein. „Tut mir leid, Apha, aber wir sind, wie gesagt, nicht geschäftlich unterwegs. Wir werden noch weit reisen, und dabei können wir schlecht Handelswaren mitschleppen. Auch - " - er versuchte ein konspiratives Zwinkern - „wenn es sich um so ein Schnäppchen handelt."
Apha starrte ihn einige Augenblicke lang aus schmalen Augen an. Annic hatte die ganze Zeit schon versucht, etwas Schakalartiges im Wesen des Mannes zu entdecken, und dies war der erste wirklich fremdartige Ausdruck, den er feststellen konnte. Er rutschte etwas auf seinem Stuhl nach hinten. Aber dann lehnte sich der Werschakal zurück und pfiff ein paar tonlose Noten vor sich hin. Einer seiner Söhne warf ihm einen kurzen Blick zu und widmete sich dann wieder seiner Suppenschüssel.
Apha räusperte sich. „Nun gut. Vielleicht ist’s auch besser, wenn ihr zwei euch nicht mit Mittagssand einlaßt. Das Zeug hat es so an sich, daß es die Leute zu seltsamen Handlungen treibt. Nicht die Benutzer, außer sie nehmen es tagelang..." - er kicherte. „Sondern die Händler und Gräber. Die Habgier kann seltsame Blüten treiben." Er schüttelte weise den Kopf.
Keto sah ihre Öffnung. „Was für seltsame Handlungen? Hast du selbst so etwas erlebt? Kannst du es uns erzählen?"
Apha gähnte. Seine Eckzähne sahen ziemlich spitz aus. „Du hast recht, jetzt sollt ihr auch etwas von mir hören, nachdem ich euch so ausgefragt habe. Eine häßliche, aber wahre Wüstengeschichte." Sein Grinsen war kein erfreulicher Anblick.

„Du wolltest wissen, ob wir hier leben. Nein, mein Haus steht eine gute Woche weiter westlich, am Unterlauf des Han. Üblicherweise bin ich um diese Jahreszeit nicht hier, aber seit einem Jahr haben wir wieder Kleine, und in dem Alter sind sie so gut zu kontrollieren wie ein Sack Flöhe. Ich habe das meiner Frau überlassen und bin geflüchtet. Schließlich ist es völlig gleichgültig, wann man sich in den Brand begibt. Er ist immer gleich unerträglich. Ich nehme an, ihr habt vom Brand gehört...?"
Die beiden nickten. Annic bemerkte, daß Keto große Augen machte wie ein Kind, dem man gerade ein Märchen erzählte. Wahrscheinlich sah er selbst ebenso aus. Im Gegensatz zu ledernen Türen war der Brand eine Angelegenheit, die in Erzählungen über Pecten-Han viel Raum einnahm. Die Reisenden hatten vorgehabt, das Gebiet mit einigem Abstand zu umgehen. Der Gedanke, daß man sich freiwillig in diese Gluthölle begeben könnte, schien bizarr.
Apha fuhr fort, „Und man hat euch vermutlich erzählt, daß die Sonne dort nicht untergeht?" Wieder Nicken. Keto beeilte sich, hinzuzufügen, daß sie dieses Gerücht aber nicht ernst genommen habe.
„Eine sehr vernünftige Einstellung - in diesem Fall leider fehl am Platz. Die Sonne geht dort nicht unter. Niemals. Das ganze Jahr nicht.
Fragt mich nicht, wie das zugeht. Ich weiß, daß es ein Überbleibsel aus dem letzten großen Krieg ist - der, den die Han verloren haben. Ein schlauer Mann, der viel gelesen hatte, hat mir einmal erzählt, daß ihr militärischer Zusammenbruch in diesem Krieg vielleicht sogar direkt damit zusammenhängt. Sie sollen ihre gesamte Magiergilde bei dem Versuch verheizt haben, ein feindliches Heer in der Wüste, die heute der Brand heißt, auszutrocknen. Das hat funktioniert, aber danach hatten sie keine Magier mehr.
Tja. Jetzt haben wir also dieses Riesengebiet, in dem die Sonne sich weigert, unter den Horizont zu sinken. Von Mittag zu Mittag macht sie nur einen kleinen Rundlauf um den Himmel, und das seit vierhundert Jahren. Das allein würde schon ausreichen, um das Land unbrauchbar zu machen, aber das Sonnenlicht ist auch noch um ein Vielfaches stärker, als man es gewöhnt ist. Der kluge Bücherleser sagte, er sei der Meinung, eine riesige Linse liege über der ganzen Wüste. Wie ein Brennglas. Das ist natürlich Unsinn, aber er hatte wahrscheinlich auch schon zuviel Sonne abbekommen... war ein Nordmensch, wie ihr.
Gut. An und für sich könnte mir das ja alles egal sein, schließlich wohne ich ja nicht da drin, aber... Keto. Weißt du, warum der Mittagssand so heißt?"
Überrascht von dem plötzlichen Themenwechsel, zuckte Keto mit den Schultern. „Ich weiß es nicht... ich nehme an, weil er einen so munter macht, wie man es normalerweise mitten am Tag ist?"
„Das auch", stimmte Apha gönnerhaft zu. „Aber der Hauptgrund ist der, daß er in der Mittagshitze aus dem Gestein wittert. Je heißer, desto besser. Das geht sehr langsam vor sich, eine halbe Handvoll im Jahr aus einer ganzen sandtragenden Klippe. Normalerweise." Er hielt inne und grinste. Keto vervollständigte das Offensichtliche. „Außer dort, wo es dauernd Mittag ist. Der Ertrag im Brand ist vermutlich größer als irgendwo sonst, richtig?"
„Sehr richtig. Die reichste Quelle an Mittagsstaub liegt fast vierzig Wegstunden tief im Inneren. Das ist nicht unbekannt, aber nur die wenigsten Leute trauen sich hinein, um ihn zu holen. Wir tun es."
Von seinen Söhnen kam ein zustimmendes Murmeln. Beide hatten ihre leeren Schüsseln zurückgeschoben und schienen vor sich hin zu dösen. Die langen Gesichter mit den fast geschlossenen, schmalen Augen erinnerten Annic an in der Sonne schlafende Katzen.
Er fragte, „Geht ihr in Schakalgestalt hinein - weil dann die Hitze besser zu ertragen ist?"
Diese Frage entlockte einem der Söhne ein explosives „Ha!". Sein Vater warf ihm einen warnenden Blick zu.
„Oh nein. Das wäre aus einigen Gründen unpraktisch. Zum Beispiel, wie sollten wir denn den Sand transportieren - als Schakale? Zudem würde es, was die Hitze im Brand angeht, keinen Unterschied machen. Annic, ich habe mich vielleicht nicht deutlich genug ausgedrückt. Das Licht dort ist nicht vergleichbar mit normaler Mittagshitze. Ein paar Minuten davon erhitzen Metall so, daß man es nicht mehr anfassen kann. Wasser in einem Wassersack, der nicht im Schatten liegt, verdunstet nicht - es kocht, binnen kürzester Zeit. Ein ungeschützter Mann wie du oder ich hätte im direkten Licht vielleicht fünfzig Atemzüge zu leben, und vorher würden uns die Haare und Kleider auf dem Leib verbrennen. Diese alten Magier haben damals ganze Arbeit geleistet. Ha!" Er lachte kurz auf. „Nicht zuletzt haben sie dafür gesorgt, daß sich ihre Nachfolger eine goldene Nase verdienen können. Hier. Das müssen wir bei jedem Gang erst mal wieder reinholen."
Apha förderte aus den Tiefen seiner Tuchjacke eine Art Stirnband aus gebleichtem Leinen zutage. Ein kleiner eiförmiger Kristall, rauchig und fast durchsichtig, war mit einem Netzwerk von Stichen darauf fixiert.
Keto und Annic betrachteten den Schirmkristall erstaunt. Jeder von ihnen besaß selber einen. Sie hatten die Kristalle erst heute morgen im Dorf erstanden. Gerade wegen der Beredsamkeit des „Zaubrischen Meisters", der sie ihnen verkauft hatte, hatten sie sich des Gefühls nicht erwehren können, als Fremde einem Schundartikel aufzusitzen - derselbe Laden bot auch Sanduhren feil, in denen der Sand von unten nach oben rieselte, und Ringe, die das Anwachsen unglückbringender Lebenslinien in der Handfläche eindämmen sollten. Aber es war nicht zu leugnen, daß sie funktionierten. Der Träger befand sich, wo er auch ging und stand, innerhalb einer kugelförmigen Zone kühlen Schattens. Sie hatten den stattlichen Preis bezahlt und den Weg zum Gasthaus vergnügt wie zwei dämmrige Seifenblasen zurückgelegt. Annic erinnerte sich, daß die Steine in ihren eigenen Stirnbändern dunkel und undurchsichtig waren. Dieser Kristall mußte fast am Ende seiner Leistungskraft angelangt sein.
„Wir hätten nicht gedacht, daß die Einheimischen sie überhaupt benutzen", sagte er. „Ich meine, die Bänder erschienen mir sehr teuer - wir haben auch welche gekauft -, und sie sind angeblich nicht wieder aufladbar. Sagte zumindest der, äh, Zauberer unten im Dorf."
Apha ließ den Kristall um seinen Finger wirbeln. „Sie sind der einzige Weg, um sich im Brand zu bewegen. Da drin halten sie sich aber nur knappe fünf Tage, deswegen ist unser Verbrauch hoch, und, wie du richtig gesehen hast, auch der Preis. Obwohl wir mit Nattoly eine Sondervereinbarung geschlossen haben - er gewährt uns Preisnachlaß, und wir lassen seine Hühner in Ruhe!"
Er lachte keckernd, und seine Söhne grunzten amüsiert. Es dauerte einen Augenblick, bis sich Annic sicher war, daß der Werschakal einen Scherz gemacht hatte. Wenn er mit den Dorfbewohnern Handel trieb, konnte er seiner Tiernatur hier wohl kaum dermaßen freien Lauf lassen. Oder?
Der grauhaarige Han verließ hinter ihnen mit unverändert mürrischem Gesicht den Raum, nachdem er eine Handvoll Münzen auf die Tischplatte verteilt hatte. Apha hatte sich wieder gefangen.
„Also, wir haben Ausgaben. Deshalb teilen wir auch ungern die Einnahmen. Glücklicherweise nimmt uns der Brand einen Großteil der Arbeit ab, wenn es darum geht, die Konkurrenz klein zu halten. Ich wollte euch von dem erzählen, was wir bei unserem Gang im letzten Jahr vorgefunden haben.
Wir hatten damals ein bißchen mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Zwölf Stunden jenseits der Grenze waren wir ein schreckliches Gewirr von Spalten geraten. Ich hätte diesem Dummkopf nicht die Führung überlassen sollen." Seine Hand flatterte vage in Richtung eines stummen Sohns. „Die Spalten waren neu, Hitzesprengung, das passiert dort allen Felsplatten früher oder später. Man muß es nur einplanen, und seinen Weg nicht gerade über die Platten machen! Nun ja. Sie hielten uns auf, und das ist im Brand eine gefährliche Sache. Denn man kann auf der offenen Ebene natürlich nicht schlafen.
Schaut nicht so verdutzt. Es wird nie Nacht, versteht ihr? Die Schirmkristalle halten nicht lange genug, als daß man noch ein paar Stündchen Schlaf einlegen könnte. Der Pfad ist, wie gesagt, etwa vierzig Wegstunden lang. Normalerweise bringen wir den Hinweg ohne Pause hinter uns, versorgen uns mit Wasser aus einer der stinkenden Quellen, die um die Finne herum zu finden sind, sammeln möglichst schnell so viel Sand ein, wie wir tragen können, und für den Rückweg schluckt jeder eine große Handvoll davon. Auf diese Weise kann man fünf Tage lang wachbleiben. Aber angenehm ist es nicht!
Also, wir waren schon ziemlich erschöpft, und hatten kein Wasser mehr, als wir bei der Finne ankamen. Die Sonne stand natürlich gerade direkt hinter uns, und so mußten wir auch noch halb um die Basis herumwandern, bis wir den Schatten erreichten. Da waren die Kristalle gerade noch für den Rückweg gut - zu knapp für meinen Geschmack! Wir stürzten auf die erste Quelle zu, die genügend abgekühlt war, um etwas anderes als schweflige Dampfwolken auszustoßen, und wären dabei fast über den Mann gestolpert.
Er kroch auf allen Vieren über die Steine, vielleicht zwei Mannslängen innerhalb des Schattens. Staubbedeckte, zerrissene Kleidung, sogar seine Haare und sein Bart waren weiß von Staub. Er war völlig abgemagert - wahrscheinlich hätte er sich gar nicht mehr auf zwei Beinen fortbewegen können, auch wenn sein Leben davon abgehangen hätte. Tatsächlich war es wohl so" - Apha bleckte kurz die Zähne - „daß sein Leben im Moment von seiner Fähigkeit abhing, sich irgendwie weiterzubewegen. Seht ihr, er rannte dem Schatten hinterher.
Die Finne ist praktisch die einzige Landmarke im Brand, die mehr als kniehoch emporragt. Eine schöne, glatte Klippe, und der Mittagssand rieselt nur so von ihren Flanken. Aber sie ist schmal, und ebenso schmal ist der Schatten, den sie wirft. Man kann sie vielleicht mit dem Stift einer Sonnenuhr vergleichen - nur, ihr Schatten beschreibt einen ganzen Kreis, einmal in 24 Stunden. Der einzige Schatten in weitem, weitem Umkreis. Dieser Unglückliche war in ihm gefangen!
Er nahm uns überhaupt nicht wahr, er kroch einfach weiter. Als ich ihn aufzuhalten versuchte und mich vor ihn hinkniete, umging er mich wie einen Felsblock. Er murmelte andauernd vor sich hin, und seine Augen hatten einen wilden Ausdruck, der mir bekannt vorkam. Das war kein Wunder - ich sah, wie er im Kriechen eine Handvoll Kiesel und Sand vom Boden scharrte und sich in den Mund stopfte, wie abwesend. Es ist einiges an Mittagssand im Geröll am Fuß der Finne. Dieser Mann hatte mit der Zeit mehr Mittagssand herausgelutscht, als die meisten in ihrem ganzen Leben zu sich nehmen. Er war jetzt in einer Art... Wachtraum, nahm nichts mehr wahr als die Notwendigkeit, sich hin und wieder zu einer der Quellen zu schleppen, sich weiterzubewegen und wach zu bleiben! Ein Alptraum eher."
Apha schüttelte kurz den Kopf. Er ließ seine Zuhörer, die ihn mit offenem Mund anstarrten, nicht aus den Augen.
„Wir hielten uns einige Zeit neben ihm und versuchten nur, sein Gemurmel zu verstehen. Es war größtenteils zwecklos, unverständlich. Aber ich meinte zu verstehen, daß er Diebe verfluchte; die Diebe, die ihm seinen Kristall gestohlen hatte. Das kann kaum jemand anderes gewesen sein als diejenigen, mit denen er hergekommen war, um Mittagssand zu sammeln. Die hatten wohl entschieden, daß sie den Profit nicht weiter als nötig teilen wollten, und ihn sitzenlassen. Gefangen im Schatten einer Sonnenuhr.
Ich weiß nicht, wie lange er dort schon im Kreis herumkroch. Vielleicht eine Woche, vielleicht länger - er war wirklich sehr abgemagert. Irgendwann zwischendurch muß er doch einmal eingeschlafen sein, denn seine Stiefel und der Saum seines Mantels waren völlig verbrannt..."
Keto fand ihre Sprache wieder. „Was habt ihr dann getan? Konntet ihr ihm helfen?!"
Apha sah sie einen Moment stumm an. Dann breitete sich abermals das beunruhigende Grinsen über sein Gesicht. Er schlug die Augen nieder und sagte: „Nun, auch wir halten nicht viel davon, den Profit zu teilen, und sehr wählerisch sind wir auch nicht, also haben wir Schakalform angenommen und -"
Keto sprang so schnell auf, daß ihr Stuhl krachend nach hinten umstürzte. Sie starrte den Werschakal mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an.
Apha blickte unschuldig zu ihr auf. Dann warf er den Kopf zurück und brach wieder in sein keckerndes Gelächter aus. Diesmal stimmten seine Söhne lauthals ein.
Annic erschien das Lachen wie Hundegebell - überhaupt nicht mehr menschlich. Seine Verlobte stand noch einen Augenblick wie versteinert da, dann wirbelte sie herum und rannte aus dem Raum.

Annic öffnete vorsichtig die Tür und steckte den Kopf ins Zimmer. „Schatz?"
Er sah Keto auf dem niedrigen Bett liegen. Sie hatte den Kopf ins Kissen vergraben.
„Ja...", drang ihre Antwort nach einer Weile gedämpft herüber.
Annic trat ein und schloß die Tür. „Sie sind weg", sagte er. „Nachdem sie sich fast unter den Tisch gelacht hatten, sind alle drei verschwunden, ohne noch ein Wort mit mir zu reden. Bezahlt haben sie nicht, soweit ich gesehen habe", setzte er nachdenklich hinzu.
Seine Gefährtin hob das Gesicht aus den Kissen und sah ihn an. Er suchte ängstlich nach Spuren, daß sie geweint hatte, aber er war sich nicht sicher. Sie setzte sich auf, und er ging zu ihr und ließ sich neben ihr nieder.
Sie starrte auf den Boden und sagte leise, „Diese Bestien haben ihn aufgefressen. Und wir haben mit ihnen am selben Tisch gegessen!"
Annic nahm ihre Hand. „Nein. Das glaube ich nicht."
„Was?"
„Ich glaube nicht, daß sie den Mann wirklich - aufgefressen haben. Ich denke, Apha hat sich einen Scherz mit uns erlaubt."
„Wie kannst du dir da so sicher sein?" fuhr sie auf und zog ihre Hand zurück. „Sie sind Schakale! Schakale tun so etwas!"
Annic fing ihre Hand wieder ein und hielt sie fest. „Weil ich mich an etwas erinnert habe. Etwas, daß du auch wissen solltest. Keto, wie alt ist Sinaton jetzt?"
„Sinaton...? Der ist beinahe siebzig, deswegen will er sich ja auch bald aus dem Geschäft zurückziehen. Was...?"
„Und wann hat er dich zum letzten mal auf sich reiten lassen?"
„Das ist sicher schon fünfzehn Jahre her. Da war ich noch ein kleines Mädchen. Inzwischen würde er vermutlich unter meinem Gewicht zusammenbrechen, er ist schon ein ziemlich klappriger Bulle." Sie mußte grinsen.
„Genau", setzte Annic nach, als hätte sie gerade eine Argumentation für ihn vollendet. „Nun ist Sinaton aber ein Büffel. Als solcher kann er sich in dem Alter zumindest noch auf den Beinen halten. Apha war doch sicher auch schon fünfzig! Kannst du dir einen fünfzig Jahre alten Schakal vorstellen? Ein Haufen staubiger Knochen, mehr wäre das nicht!"
„Aaahhhh...". Keto kniff die Augen zusammen. „Du meinst, er kann sich gar nicht mehr verwandeln?"
„Er nicht, und seine Söhne wahrscheinlich auch nicht mehr. Es würde sie umbringen, dessen bin ich mir sicher! Du siehst also, er muß uns etwas vorgelogen haben. Die drei müssen hübsch menschlich bleiben und haben niemanden verputzt."
Keto ging noch ein Licht auf. „Erinnerst du dich, wie er sagte, seine einjährigen Kinder seien so schwierig zu hüten wie ein Sack voll Flöhe? Das kam mir doch etwas komisch vor... aber in diesem Alter könnten sie sich natürlich schon als erwachsene Schakale herumtreiben! Mit dem Geist eines einjährigen Kindes." Sie kicherte, aber dann stahl sich wieder ein ernsterer Ausdruck auf ihr Gesicht.
„Weißt du, das heißt aber noch lange nicht, daß sie ihn nicht umgebracht haben. Nur, um die Konkurrenz klein zu halten. Ich könnte es mir vorstellen."
Annic seufzte. „Ich auch."
Sie starrten aus dem Fenster. Es ging langsam dem Abend zu; das Licht wurde schwächer, und ein rötlicher Schimmer kroch über die zerklüfteten Felsen.
Keto legte den Arm um die Schultern ihres Verlobten. „Wollen wir morgen weiter?"
Er schaute immer noch hinaus. „Ich weiß nicht."
Zusammen warteten sie, während die Schatten länger wurden.

florian weller dec MMI

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