Steine in Silber

In einer Lawine von Kieselsteinen rutschte Ian den Hang hinunter. Er wurde jeden Tag besser darin. Wie ein Skifahrer auf einer vereisten Strecke schlidderte er seitlich auf den Fußkanten dahin; wie ein Skifahrer, dem sich plötzlich eine geteerte Straße vor die Bretter wirft, fiel er jedesmal an der Stelle fast auf die Nase, an der lockerer Kies in eine sanddurchsetzte Grasfläche überging. Er überbrückte die ersten Grasbüschel mit einem kleinen Schlußsprung. Während er seinen Rucksack zurechtrückte, blinzelte er über seine Schulter die Steigung hinauf. Der Hang gleißte in der Morgensonne; die letzten rollenden Steinchen sahen aus wie hüpfende Funken. Der abendliche Rückweg, wußte Ian, würde wie üblich eine schweißtreibende Angelegenheit werden - jeweils zwei vorsichtige Schrittchen aufwärts, gefolgt von einem halben Meter Gerutsche nach unten -, aber er garantierte Abgeschiedenheit. In den drei Wochen, von denen er fast jeden Tag in dieser Senke verbracht hatte, war er hier noch keiner Menschenseele begegnet. Südkalifornien hat viele Wanderer, aber die meisten erkennen einen schwierigen Hang, wenn sie ihn sehen. Der Rest wird zweimal von der Parkwacht gerettet und geht dann Bowlingspielen.

Er marschierte den ausgetrockneten Bachlauf entlang, der die Senke durchzog. Struppiger wilder Hafer und graugrüne Seggen zeichneten das Bett nach, das immer noch feuchter war als der umgebende Sandboden. Der Felsen, der Ian’s Ziel war, hatte den Bach zu einer Biegung gezwungen. Der fast drei Meter hohe Granitbuckel war umgeben von Krüppelkiefern. Auf der abgewandten Seite wuchs eine einzige verdorrte Eiche, deren obere Äste gerade noch über den Felsen herausragten. In ihrem fleckigen Schatten ließ sich Ian nach kurzer Inspektion des Sandbodens nieder. Er hielt den Platz frei von Ästen und Anhäufungen von Kiefernnadeln, die Skorpione oder Spinnen zum Bleiben ermuntern könnten, aber mit einem Spähtrupp von Ameisen war immer zu rechnen. Einmal hatte er hier eine schlafende Klapperschlange vorgefunden und den Tag weise ein paar hundert Meter entfernt verbracht.
Für einige Minuten saß er nur an den Felsen gelehnt da und genoß das Zirpen der Grillen rund um ihn. Schließlich angelte er nach seinem Rucksack und zog daraus ein kleines Paket aus Stoff hervor. Er schlug das Halstuch, das als Verpackung diente, auseinander und breitete es über seine gekreuzten Beine. Dann drapierte er vorsichtig den Inhalt des Pakets auf dem Tuch. Die Halskette war von simpler Machart. Statt aus einzelnen Gliedern bestand sie aus einem halben Dutzend Drähte, die zu einem dünnen Kabel verdreht worden waren. Die Enden wurden von einem Ring aus poliertem schwarzen Holz zusammengehalten. Die Drähte waren dick und ziemlich weich, so daß das Band verformbar blieb, und besaßen den Glanz leicht verunreinigten Silbers - im richtigen Licht war ein schwacher kupferfarbener Schimmer zu sehen. In die verdrillten Drähte eingefügt wie in winzige Käfige lagen die Steine.
Es waren vier: ein Onyxsplitter; ein kleiner, tränenförmiger Rubin; ein Jadescheibe von der Größe einer Münze; und ein hellblauer, kugelrunder Stein mit winzigen Vertiefungen, bei dem es sich, wie Ian schließlich entschieden hatte, um ein poliertes Stück Koralle handeln mußte. Jeder Stein schloß ein Viertel des Umfangs ab, so daß der Onyx und die Koralle, hätte sich jemand die Kette um den Hals gelegt, sich fast auf den Schultern des Trägers befunden hätten. Nicht daß Ian eine solche Versuchung verpürte - das erste Mal war ihm noch zu unangenehm in Erinnerung.
Er strich sanft mit den Fingern über die Steine; dann legte er die Spitzen beider Zeigefinger auf den Onyx, und sagte sanft, „Hallo... Lernende". Nach einer würdevollen Pause antwortete die alte Frauenstimme, die Onyx war.
„Ian - wie die Sonne des morgens erscheint, so sprichst du unfehlbar mit mir; wie sie ihren Weg über den Himmel sucht, so wirst du uns unfehlbar Neues bringen; wie sie am Abend -" -
„Ich freue mich auch, wieder mit euch zu sprechen", unterbrach Ian sie hastig, bevor sie ihre Metapher völlig ausreizen konnte. Onyx neigte zu blumiger Sprache, und das war nicht, wie so vieles andere, seine Schuld. „Was habt ihr geschaffen, während ich weg war? Habt ihr die Sterne im Bach ertränkt? Oder wieder die Felswände von oben bis unten mit Tonfiguren bevölkert?" Das war vor drei Tagen gewesen - ein Anblick, den er nicht so schnell vergessen würde.
Onyx lachte ein freundliches Großmutterlachen; wie ihre Worte drang es aus der Tiefe seines eigenen Kopfes zu ihm. „Nichts davon, Lehrer. Meine Schwester hat die Lebewesen bedacht, die du uns gestern brachtest. Sie entsprechen ihr, sie liebt sie, denn sie sind beide von Wasser."
Ian zog unwillkürlich eine Grimasse. Wenn Koralle auf den Kreativitätstrip kam, konnten die seltsamsten Sachen geschehen. Sie war freundlich, schüchtern, vermutlich die umgänglichste der Vier, aber experimentierfreudig wie ein Sechsjähriger in einer Feuerwerksfabrik. Also heute lieber etwas Unverfängliches.
Er beugte sich vor und zupfte mit der rechten Hand einen langen, dürren Halm aus einem Büschel Spinifex. Dabei achtete er darauf, die andere Hand weiter in Berührung mit dem Onyxsplitter zu lassen, um den Kontakt nicht zu unterbrechen. Den Grashalm in den Fingern zwirbelnd, sagte er: „Ich möchte euch heute mehr über Pflanzen erzählen - nicht Bäume, andere Pflanzen. Der Canyon sieht so leblos aus ohne sie."
„Was immer du uns bringst, wollen wir lernen", antwortete Onyx sofort. „Aber, Ian - es regnet."
Ian blickte unwillkürlich auf, durch die schütteren Äste der Eiche in einen strahlend blauen Himmel. Ein reiner Reflex; natürlich liefen die beiden Wetterlagen nicht mehr synchron, seit die Steine an der ihren herumspielten, wie es ihnen gerade paßte. Wahrscheinlich war spätestens bei Jade’s mehrstündigem Tornado mit Hagel, Schnee und Mikrometeoriten jegliche Parallelität verlorengegangen.
„Na, dann regnet’s eben. Das macht doch nichts!" meinte er.
„Lehrer, in uns ist die Hoffnung - unbegründet wie das Aufkeimen der Zuneigung in einem jungen Herzen, zaghaft wie das Erscheinen der ersten Schneeflocke auf der herbstliche Erde - daß du uns zeigst, wovon du gesprochen hast, als der Regen fiel und die Sonne doch im Zenith stand... willst du es nicht heute tun?"
Jetzt war Ian klar, wovon sie sprach. Eigentlich erstaunlich, dachte er, auf welche Nebensächlichkeiten die Vier besonderen Wert legten. Aber vielleicht waren es für sie ja keine Nebensächlichkeiten, genau so wenig wie für die Menschen des Alten Testaments... Er zuckte die Schultern. Dieses Thema war so gut wie jedes andere.
„Gut, Onyx, wenn euch daran liegt!", sagte er laut. „Laßt ihr mich ein?" Eine rituelle Frage.
„Der Weg steht offen." Eine rituelle Antwort.
Ian spreizte die Finger und legte beide Hände auf die Kette, so daß sie ganz bedeckt war. Dann schloß er die Augen und ließ sich fallen.

Er saß mit gekreuzten Beinen, ein leeres Halstuch im Schoß, auf einer Terrasse aus sonnengetrockneten Lehmziegeln. Das breite Ende der halbkreisförmigen Terrasse wurde von einem fensterlosen, bungalowartigen Bau aus lehmverputzten Bohlen abgeschlossen; die Rundung der knöchelhohen Brüstung ragte aus der Felswand, die die Terrasse trug, in den Canyon hinein. Fünfzig Meter darunter murmelte ein Bach seinen Weg durch kleine Gruppen von Kiefern und Pinien, Eiben und Zwergeichen. Durch die Schleier des Regens, der in sanften Böen duch die Schlucht trieb und die Ziegel zu Ian’s Füßen sprenkelte, konnte man Baumgruppen auch auf den flacheren Hängen erkennen; aber sonst trug die sandige Erde keine Pflanzen - kein Gras, keine Kräuter oder Moose.
Die vier Gestalten, die Ian im Halbkreis gegenüber saßen, verdankten ihre schemenhafte Erscheinung allerdings nicht dem Regen; er wußte, daß sie bei schönstem Sonnenschein ebenso verwischt und undeutlich zu erkennen gewesen wären wie jetzt. Menschenähnliche Konturen zeichneten sich in einem farbigen Nebel ab, der mit ihren Bewegungen wirbelte, aber immer gerade dicht genug war, um keine Einzelheiten erkennen zu lassen. Wahrscheinlich würden sie nie mehr Substanz annehmen, als sie jetzt besaßen. Ihr Interesse war nicht darauf gerichtet, ihr Erscheinungsbild zu verändern. Alles, was sie wollten, war lernen; jede Information saugten sie auf wie ein Schwamm, drehten und wendeten sie und spielten mit dem neuen Ding herum, bis sie es in- und auswendig kannten.
Um was es sich bei den vier Steinen und ihren geisterhaften Repräsentanten tatsächlich handelte, wußte Ian nicht. Der beste Schluß, den er aus ihrem Verhalten und ihrer Umgebung ziehen konnte, war dieser: Onyx, Jade, Rubin und Koralle waren Geister in Ausbildung. Ob sie tatsächlich die „Seele" ihrer Steine darstellten oder ob sie, anderen Ursprungs, dort hineinprojiziert worden waren - wer konnte das wissen? Wer auch immer vor Hunderten von Jahren diese Kette geflochten hatte, dem war vielleicht eine Art tragbarer Kriegsrat vorgeschwebt - eine Gruppe von Ratgebern, jeder ein Experte auf seinem Gebiet, die sich ständig selbst fortbildeten und die in dauerndem Rapport mit ihrem Besitzer standen. Daß der Kontakt beim Tragen der Halskette dauerhaft und sehr intim sein würde, das hatte Ian schon festgestellt. Als er das Band zum ersten Mal über den Kopf gestreift hatte, neugierig und erregt über seinen kostbar aussehenden Fund, waren die Vier regelrecht über ihn hergefallen. Von allen Seiten war er angeschrien worden: drohend von einer schillernden roten Gestalt, hoffnungsvoll von einer moosgrünen, bittend von einer glänzend schwarzen und mit kindlichem Jammern von einem stumpfblauen Schemen. Er hatte die Kette keuchend wieder heruntergezerrt und sie beinahe in die Schlucht hinabgeschleudert, an deren Rand er sie entdeckt hatte, tief eingekeilt in der Spalte einer uralten, abgestorbenen Baumwurzel. Die Steine mußten lange Jahre dort gelegen haben, denn obwohl dieser Canyon erkennbar das Vorbild für denjenigen in ihrer wandelbaren Welt darstellte, war hier keine Spur mehr zu erkennen von indianischer Bebauung, geschweige denn von der Terrasse, auf der ihre ersten Lektionen stattgefunden haben mußten.
Daß die Ausbildung der Steingeister früh abgebrochen worden war, schien Ian offensichtlich. Die Vier hatten eine Ewigkeit der Langeweile hinter sich gehabt, als er sich plötzlich als neue Quelle köstlicher Informationen bei ihnen zeigte. Sie hatten schon lange alles gründlichst erforscht, was ihnen gebracht worden war. Hinter Onyx stand eine bemalte Holzkiste voller Zeichnungen, Schnitzereien, Talismane und Knotenschriften; die Ansammlung von Kriegsgerät wie Messern, Schleudern und Wurfwaffen, zusammen mit Schilden und geflochtenen Panzern, die in der flachen Hütte lagerte, war Rubin’s Spezialgebiet. Jade war offenbar zum Pflanzen- und Heilkundigen bestimmt, denn er wußte alles über die Bäume des Canyons und die Wirkungen ihrer Blätter und Rinden. Das Fehlen aller kleinerer Gewächse deutete auf das methodische Vorgehen des ursprünglichen Lehrers hin, der die Pflanzen wohl gruppenweise durchgegangen und über die Bäume nicht hinausgekommen war. Ian gedachte diesen Mangel demnächst mit Hilfe einiger Fachbücher zu beheben.
Über Koralle’s Wissensgebiet war er sich noch im Unklaren. Sie war einfach an allem interessiert, was ihres Weges kam. Vielleicht sollte sie der Zufallsfaktor, das wilde Genie der Gruppe sein. Dazu paßte ihre manische Experimentierfreude und ihr kindliches Gemüt; sie war immer für Überraschungen gut.

Ein Beweis dafür näherte sich Ian gerade aus den Tiefen des Canyons. Ungläubig starrte er auf einen Delphin, der mit langsamen, eleganten Schwimmbewegungen das Tal hinaufkam - zwanzig Meter über dem Erdboden. Der stahlgraue Körper glitt durch die Regenschwaden, als befände er sich in tiefem Wasser und nicht in feuchter Luft. Gerade als der Delphin, scheinbar mit einem süffisanten Lächeln um die zahnstarrenden Kiefer, direkt unterhalb der Terrasse vorbeiglitt, wurde er von einem Rudel quiekender Belugas überholt, die unter den Bäumen am Bachlauf hervorschossen wie ein Haufen riesiger weißer Mäuse. Offenbar fühlten sie sich von den beiden Pottwalen gestört, die über dem Rand des Canyons erschienen waren und jetzt gemächlich wie Gletscher kopfüber auf die Talsohle zusanken.
Ian wandte kopfschüttelnd den Blick ab. Die gestrige Zoologiestunde schien bei Koralle wirklich Anklang gefunden zu haben. Er sprach die Figur in ihrem oszillierenden Nebel an, der gerade eisblau schimmerte - unterdrücktes Lachen, entschied er.
„Guten Morgen, Koralle. Wie ich sehe, hattest du in der Nacht deinen Spaß. Aber habe ich euch denn nicht gesagt, wo diese Wesen leben? Ich sehe ja ein, daß du sie nicht in den Bach quetschen konntest, aber..."
Koralle kicherte mit Kinderstimme. „Ich habe nur für sie die Luft mit Wasser gefüllt! Sieh doch, Ian, wie wohl sie sich fühlen. Alles, was du uns gezeigt hast, schwimmt auf meinem Atem wie im Pra-zi-fik." „Pazifik", verbesserte Ian automatisch und warf einen unruhigen Blick in den wolkenverhangenen Himmel. ‘Alles’ schloß wahrscheinlich auch die Riesenkraken und langbeinigen Tiefseemonster ein, die er sich gestern nicht hatte verkneifen können. Aber er mußte zugeben, daß die driftenden Wale der Schlucht ein gewisses Etwas verliehen. Fast New Age, dachte er und grinste.
Rubin sprach. „Lehrer, willst du uns das zeigen, was im Kampf von Regen und Sonne entsteht? Die kleine Schwester hat den Regen herbeigezwungen, die Sonne steht hoch" - ein irisförmiges Loch in einer Regenwolke öffnete sich fügsam und ließ kurz die Sonne hindurchscheinen - „und wir alle streben dieses Wissen an!"
Rubin’s Stimme ließ Ian immer an einen kleinen, angespannten Mann denken, der alles wie einen Kampf anging. Seine Direktheit war manchmal ziemlich unangenehm, doch er war genau so ehrlich wißbegierig wie die anderen drei. Ian nickte.
„In Ordnung. Ich hoffe, daß ich das hinkriege. Betrachtet den Himmel über der jenseitigen Wand!"

Wie beginnen? Ian fixierte einen Punkt über dem zerklüfteten Rand des Canyons und ließ einen Kreisbogen aus rotem Licht daraus erwachsen. Er zog den Bogen quer über das Tal und ließ das Ende wieder im Sandstein versinken. Dann ordnete er seitlich des roten Bogens die Farben an, von orange über gelb und grün bis zu blau.
So - das sah doch schon ganz ordentlich aus...? Nein, leider überhaupt nicht. Die Tiefenwirkung fehlte, alles wirkte flach und zweidimensional; wahrscheinlich, weil er sich unter der Wolkendecke befand.
Er drückte die Wolken über dem Canyon auseinander. Koralle half ihm mit ausführlichen Wischbewegungen, dabei haltlos kichernd. Den Grund dafür entdeckte er, als er gerade wieder den Bogen ansetzen wollte: in der wolkenfreien Schneise näherte sich eine Art Karavane von Kleinwalen, angeführt von einem ernst dreinblickenden Orca. Seufzend ergriff Ian ihn und drehte ihn um 180 Grad; brav entfernte sich der Zug wieder im Gänsemarsch.
Ian’s andere Bemühungen wollten trotzdem nichts fruchten. Der Bogen wirkte jetzt zu gekrümmt. Er stellte sich einen perfekten, waagrecht liegenden Kreis vor und drehte ihn in die Vertikale; es nützte nichts. Vielleicht war das Ganze zu plastisch? Er schwächte die Farben ab, machte sie durchscheinend - der Effekt war der von verblaßten Wasserfarben, nicht eine Lichterscheinung. Und stimmte die Reihenfolge der Farben überhaupt? Er probierte auf der Flanke eines Buckelwals, der seinem Zugriff entkommen war, mehrere Variationen aus, aber keine wirkte richtig. Sollten die Endpunkte vielleicht höher liegen?...
Nach zwanzig Minuten des Herumexperimentierens gab er schließlich erschöpft auf. Offenbar war er nicht fähig, ohne Vorlage einen glaubhaften Regenbogen zu schaffen.

Die Vier hatten seinen Versuchen in gespanntem Schweigen zugesehen. Als Ian sich ihnen jetzt zuwandte, drückte die Haltung ihrer schemenhaften Körper Enttäuschung aus. Er hatte das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen.
„Es tut mir leid", sagte er. „Ich habe das Aussehen eines Regenbogens wohl nicht mehr gut genug im Gedächtnis. Morgen bringe ich ein Bild mit, das ich mir vorher ansehen kann, und dann werde ich ihn euch zeigen!"
Jade, Onyx und Koralle nickten, aber Rubin schien verärgert. Er neigt sich kämpferisch nach vorne. „Warum hast du davon gesprochen, wenn du es uns nicht zeigen kannst?" verlangte er .
Ian sah ihn erstaunt an. „Ich konnte ja nicht riechen, das ein simpler Regenbogen so schwierig ist! Morgen bekommt ihr ihn zu sehen."
Aber Rubin knurrte weiter. „Du solltest nicht von Dingen sprechen, die es nicht gibt! Wie sollen wir sie erlernen?"
Jetzt wurder Ian ärgerlich. „Was soll das heißen - Dinge, die es nicht gibt! Natürlich gibt es Regenbögen, aber woher solltest du schon davon wissen? Ihr hattet ja nicht einmal Wolken, oder Sterne, oder Wasser! Das mußte ich euch alles bringen!"
„Warum konntest du es uns dann nicht zeigen? Rede zu uns nicht von Dingen, die du uns nicht zeigen kannst!" fuhr ihn Rubin an. Und Ian schrie zurück, „Du hast von nichts Ahnung als von vorsintflutlichen Waffen und dem Rumsitzen auf Lehmziegeln, also bläh dich nicht so auf!"
Noch bevor er diesen Aufschrei beendet hatte, wußte Ian, daß er zu weit gegangen war.
Rubin’s Aura pulste plötzlich in strahlendem Rot, und die Farben der anderen Steine schienen kurz zu verblassen. Dann

Koralle streckt die Arme nach ihm aus
Jade kauert sich zusammen
Onyx wendet sich ab
Rubin schreit, und die Welt geht in Flammen auf.

Ian fuhr so ruckartig zurück, daß er sich den Kopf am Felsen hinter sich anschlug. Fluchend rieb er sich den Hinterkopf und blinzelte schwer atmend in die grünlichen Lichtreflexe, die zwischen den Blättern der Eiche tanzten.
Vor seinem inneren Auge sah er noch die Flammen, die innerhalb eines Augenblicks aus jeder Oberfläche geschossen waren. Wie eine Welle war das Feuer die Hänge des Canyons hochgelaufen; der Bach war in einer Wand aus Dampf nach oben geschossen, alle Bäume gleichzeitig wie Fackeln aufgeblüht. Delphine, des Schwimmvermögens durch ihre schockierende Entzündung beraubt, waren ihnen kometengleich entgegengefallen. Aus den Augenwinkeln glaubte er immer noch den sich aufbäumenden Körper eines Wals über dem Horizont aufragen zu sehen, wie die Hindenburg im Moment der Explosion. Und in dem Augenblick, in dem die Stichflammen aus den Ziegeln zu seinen Füßen platzten, war er... was?
Gestoßen worden. Koralle hatte ihn nach hinten gedrückt, und er hatte sich hier den Kopf angeschlagen.
Er schaute nach unten, auf die Kette in seinem Schoß. Um die Träne aus Rubin herum war das Halstuch deutlich geschwärzt.
Aus irgendeinem Grund brachte ihn dieser Anblick in Rage. Er packte die Kette, umschloß den unangenehm heißen Rubin mit der Faust und brüllte ihn an: „Bist du eigentlich WAHNSINNIG geworden? Wolltest du mich rösten, du verdammtes Gespenst?"
Es kam keine Antwort. Ohne die Faust zu öffnen, berührte er mit den Fingern der anderen Hand die übrigen Steine. „He, hat sich der Idiot jetzt selber eingeäschert? Seid ihr noch da - was sollte denn das?"
Dann erklang Onyx’ Stimme in seinem Kopf, präzise wie immer. „Ian - es ist nicht weise, den Kämpfer zu reizen. Das Gespräch ist nicht seine Art, und seinen Jähzorn kann nicht er selbst bändigen."
Diese bedächtige Zurechtweisung kam für Ian so überraschend, daß seine Wut sofort verpuffte. Er fragte verblüfft, „Du meinst, er soll so reagieren? Aber er hat gerade eure gesamte Menagerie verheizt - und alle von Jade’s Bäumen! Macht dir denn das nichts aus?"
„Sie wachsen wieder in diesem Moment, denn ich kenne sie", antwortete die ruhige Altmännerstimme von Jade. „Ian, für die Druckverletzung deines Kopfes nimm die Blätter der Eberesche und die Rinde der größeren Eibe; gib ihnen das Wort ‘Petahauerat’ , verbrenne sie und atme den Rauch. Auch ist dies wohltuend bei übermäßiger Kälte an den Augen, und bei Trauer um eine verlorene Person."
„Äh - danke für den Tip", sagte Ian nach kurzer Pause. „Aber sagt mal, zumindest für mich hätte das doch ziemlich böse ausgehen können - glaube ich zumindest."
„Die kleine Schwester ist stets besorgt um dein Wohlergehen, Lehrer. Du hast nichts zu befürchten", teilte ihm Onyx in recht förmlichem Ton mit.
Aha, dachte sich Ian. Das also war Koralle’s Aufgabe: der Schutz des Trägers der Kette - ein spiritueller Schleudersitz sozusagen. Und es sah so aus, als wäre diese Funktion auch durchaus nötig.
„Nun gut, das beruhigt mich", sagte er laut. „Hört mal, Lernende, für heute möchte ich es lieber gut sein lassen. Morgen bringe ich euch den Regenbogen, und - ... Gräser, vielleicht? Na, mal sehen. Was werdet ihr bis dahin tun?"
„Ich werde die Bäume wieder wachsen lassen. Denke daran, Ian - ‘Petahauerat’. Die wenigsten anderen Worte werden wirken!"
„Ich werde über die Dinge nachdenken, die du uns heute gezeigt hast, auch wenn du sie nicht als vollständig siehst."
„Ich werde Wale machen, und Riesenkra-ker." Kichern.
Und du wirst schmollen, dachte Ian, als von Rubin immer noch keine Antwort kam. Na, meinetwegen.
Er wickelte die Kette wieder in ihr Tuch und legte sie beiseite. Dann lehnte er sich zurück, schloß die Augem und lauschte den Grillen.

Es gibt dort keine Grillen, dachte er nach ein paar Minuten.

Morgen.

Wenn ich genau weiß, wie eine aussieht.

florian weller feb MMI

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