Veto

Als Detweiler an diesem Morgen aufwachte, fand er sich zu seinem Leidwesen nicht in ein riesiges Insekt verwandelt.
Schade. Das hätte ihm vermutlich erlaubt, den Tag im Bett zu verbringen, anstatt ihn den Kaspereien des Konklave zu widmen. Er warf einen Blick auf seinen Reisewecker und erschrak: schon fast 10 Uhr. Zwar waren die versammelten Kardinäle nicht einmal unter den momentanen Umständen als Frühaufsteher bekannt, aber man konnte ja nie wissen...
Er begab sich zum Fenster und spähte hinaus: grauer, wolkenverhangener Himmel, Nieselregen. Keine sichtbaren Explosionen über der Vatikanstadt. Na also. Er warf sich in Schale, griff seine Kameratasche und verließ das Hotel ohne Frühstück und Bedauern, da er das geschmacklose Brot seiner Halbpension sowieso nicht runterbrachte.
Der Wachtposten an der Schranke zur Vatikanstadt warf einen Blick auf seinen Presseausweis und winkte ihn durch. Da gerade niemand anderes die Aufmerksamkeit des Mannes beanspruchte, versuchte Detweiler ihm ein paar Worte zur Situation zu entlocken, aber er erhielt keine Antwort. Detweiler fragte sich, ob er sich wohl zumindest umdrehen würde, wenn hinter ihm die Knallerei losging. Mögliches Fotomotiv: statuenhafter Schweizergardist vor einem Hintergrund von Leuchtspurgeschossen. Vielleicht morgen.
Sein Ausweis schleuste ihn auch durch die Absperrung um den Platz vor der Sixtinischen Kapelle. Er umrundete das weiträumig abgesperrte Areal und musterte dabei die Maschinerie, die von nervösen Soldaten auf den nassen Pflastersteinen herumgeschoben wurde. Eine Gruppe klobiger Geschütze von der Größe eines VW-Busses fiel ihm auf. Die waren gestern noch nicht dagewesen. Er knipste ein paar Fotos durch den Nieselregen.Dann bahnte er sich einen Weg durch eine Gruppe regenschirmbewehrter Frauen, die Tee aus Thermosbechern nippten und das Portal der Kapelle im Auge behielten, und schlüpfte unter die triefende Markise seines üblichen Cafés. Olivier war schon da; er winkte ihm von einem Zweiertisch aus zu.
Detweiler hängte die Kameratasche über die Lehne des angebotenen Stuhls und ließ sich dankbar nieder.
„Tut mir leid, verschlafen", murmelte er. Olivier wedelte mit der Hand: kein Problem. Der Fotograf des Manchester Daily trug trotz des Regens seine übliche Sonnenbrille und hatte diesen Sitzplatz, nach den leeren Espressotassen vot ihm zu urteilen, schon seit dem frühen Morgen inne.
„Noch nichts passiert", teilte er mit. „Wissen Sie, manchmal wünsche ich mir, man würde die Sache mit dem weißen und schwarzen Rauch wieder einführen. Dann hätte man wenigstens etwas Vorwarnung. Aber wahrscheinlich wollen die Herren gerade das vermeiden."
Detweiler nickte. Die Verlautbarungen der Curia hatten in letzter Zeit einen gewissermaßen sprunghaften Chararkter angenommen. Nicht daß es etwas genützt hatte. Bis zum Segen war bis jetzt noch keiner gekommen.
Er vertraute einem vorbeieilenden Kellner sein Verlangen nach Kaffee und Croissants an und wandte sich dann an Olivier. „Sagen Sie, haben Sie diese neuen Geräte gesehen, da neben den Halbautomatischen? Sind das nicht Bergbaulaser?"
Der andere grunzte amüsiert. „Mit dreißig Zentimetern Mündungsweite? Sehen Sie hier irgendwo ein eigenes Kernkraftwerk, um sowas anzutreiben? Nein, nein. Leichte Raketenwerfer, denke ich."
Detweiler zuckte mit den Schultern und betrachtete das Rund des Vorplatzes. Durch die leichten Regenschleier schimmerten die Lichter der umgebenden Cafès, die dank ihrer Position inzwischen das lukrative Dasein von Kriegsbeobachter-Enklaven führten. Alle schienen voll besetzt zu sein, größtenteils von Presseleuten. Um die Absperrung drängte sich eine ziemliche Menge Regenschirme, aber nicht so viele, wie Detweiler eigentlich erwartet hätte. Man wurde des Schauspiels wohl doch langsam müde.
Sein Frühstück traf ein. Er widmete sich hungrig seinen Croissants und versuchte sich währenddessen mit Olivier einig zu werden, wer von ihnen beiden diesmal mit dem Führen des Logs dran sei. Olivier gab schließlich nach, und man einigte sich darauf, diesmal Detweiler das Sichten und Fotografieren zu überlassen. Dann entspann sich eine Diskussion darüber, ob der Regen und die verminderte Sicht dem Ansinnen der Konklave wohl zum Nutzen gereichen würde. Der Brite sprach sich dagegen aus.
„Ich glaube eher", sagte er, „daß das Geniesele den Ansturm überhaupt nicht behindert. Nur der Kardinaldiakon hat dadurch eine verkürzte Reaktionszeit. Den beneide ich nicht... es ist sowieso schon der vierte seit Beginn dieses, äh, Annäherungsprozesses, wie sie es so schön nennen... Hoo! Es geht los! Da ist er! Im zweiten Stock, große Sakristei. Trickreich, ich hätte ihn mal wieder ebenerdig erwartet..."

Er beugte sich gespannt vor und lauschte. Während Detweiler eilig seine Checkliste aus der Tasche zog und die Abdeckung von der Kamera schraubte, sah man auf einem hochgelegenen Balkon am Sakristeigebäude eine rotgekleidete Gestalt auftauchen. Sie bewegte sich mit auffälliger Eile. Begleitet vom einsetzenden aufgeregten Raunen der Menge um den Platz wurde hastig ein Megafon über die Brüstung gehievt, und die rapide sprechende Stimme des gegenwärtigen Kardinaldiakons erscholl.
„Gaudium magnum do vobis, habemus papam, sancte spiritu volente, Martin Kardinal Sinkiewicz -" - hier hielt die Stimme kurz inne, als erwarte sie eine sofortige Reaktion auf den Namen. Das Murmeln der Leute wurde nicht lauter; offenbar war dieser Kardinal nicht sehr bekannt. Viele bekannte Namen waren natürlich auch nicht mehr übrig.
Olivier nickte grinsend und flüsterte angespannt: „Immer noch die osteuropäische Schiene, sie testen das wohl noch ein paar mal an. Und...?"
Der Diakon ließ noch zwei Sekunden verstreichen, dann hörte man ihn Luft holen, um zum Weiterreden anzusetzen. In diesem Moment blitzte es über dem Dach der Sakristei auf. Eine glühende Gestalt hing dort plötzlich in der Luft. Wehendes Haar und eine fließende Robe strahlten in einem eigenen Licht; halb duchsichtige Schwingen entfalteten sich. Die Gestalt trug ein großes, flammendes Schwert.
Der Diakon besaß gute Instinkte. Man hörte ihn einen erstickten Quietscher ausstoßen, bevor das Megafon, plötzlich herrenlos, von der Balkonbrüstung stürzte. Hinterher flatterte der rote Kardinalshut, den der Flüchtende bei seinem Satz ins Innere des Hauses verloren hatte - ein Sprung, der ihn knapp vor dem herabfauchenden Schwert der Lichtgestalt bewahrte, das gerade hinter ihm durch die Luft zischte.
„Na, wer hätte es erwartet!", meinte Detweiler, während er seine Kamera scharfstellte. Er zielte mit dem Sucher auf einen der Dutzenden von Lichtflecken, die jetzt über den Dächern der Kapelle aufflackerten. „Okay, Olivier, dann notieren Sie mal! Wir haben -"
Ein blendendes Licht überschwemmte den Sucher. Fluchend ließ er die Kamera sinken und bemerkte durch die tanzenden Punkte vor seinen Augen, daß die Beleuchtung ihres Cafès plötzlich ausgefallen zu sein schien, ebenso wie die aller anderen Cafès rundum. Dafür schoßen von der Mitte des Platzes in kurzen Abständen gleißende Blitze in den verhangenen Himmel. Jetzt setzte auch das Wummern und Rattern der anderen Geschütze ein.
Detweiler kniff die schmerzenden Augen zusammen. „Von wegen Raketenwerfer, Olivier!" schnaubte er. Der andere zuckte entschuldigend die Achseln. „OK, doch Laser. Kann ich ja nicht riechen. Und sie dürfen offenbar direkt den Reaktor des Vatikan anzapfen.. Ich fürchte, der Rest der Stadt liegt jetzt im Dunkeln!" Tatsächlich schienen auch in der Kapelle selbst alle Lichter ausgegangen zu sein.
Detweiler zwinkerte. „Na, geben Sie mir ihre Sonnenbrille, sonst sehe ich nichts bei dem Geblitze!... Danke.... Also, Nummer eins:... ist leider schon weg, das war ein Cherub. Eher ungewöhnlich, was? Gut und dann haben wir da..."
Er zielte mit dem Sucher der Kamera zwischen den leuchtenden Schemen umher, die immer noch über den Dächern entstanden, und drückte hin und wieder auf den Auslöser. Die Gestalten, alle mit Schwertern bewaffnet, schienen sämtlich auf den verlassenen Balkon zuzustreben, und die Besatzung der Geschütze unter ihnen versuchte sie mit besten Kräften daran zu hindern. Detweiler zählte auf, und Olivier schrieb eifrig mit.
„Cherub... Cherub... Schutzengel... hier gleich zwei Seraphim, noch einer, da muß irgendwo ein Nest sein - ups, das war flott. Guter Schuß, ich denke Flak, kleinkalibrige. Ähm, Schutzengel, noch ein Schutz, noch ein Schutz... die scheinen besonders auf die Laser reinzufallen... Seraph... oh ho, das ist Zacharel! Der erste Namensträger heute... hmm, mehr kommen wohl auch nicht... da ist noch ein Cherub, und ein einzelner Schutzengel. Das ist der letzte. Weg. Das wars."
Er setzte die Kamera ab, als die letzte der Gestalten kurz vor dem Balkon beim Kontakt mit einer Leuchtspurgarbe verpuffte. Der Lärm von der Mitte des Platzes verebbte. In der Wand der Sakristei waren einige neue Einschußlöcher zu sehen.
Olivier betrachtete stirnrunzelnd die Liste. „Kein tolles Aufgebot. Was meinen Sie? Sinkiewicz scheint da oben auf nicht ganz so viel Ablehnung zu stoßen wie manch anderer. Wenn ich da an die Armee denke, die vor zwei Wochen aufkreuzte, als sie diesen Franzosen gewählt hatten, Jean-Baptiste Wie-hieß-er-noch... oder erinnern Sie sich an den Altöttinger? Uriel hatten wir, und Israfel! Das waren Bilder, als die heranstürzten! Den armen Diakon haben sie, wie ich höre, inzwischen seliggesprochen."
Das Licht ging wieder an. Detweiler warf seinem Kollegen einen säuerlichen Blick zu. „Sie hoffen ja doch nur, daß sie eines Tages Metatron aufs Bild bekommen. Aber vielleicht hat die Sache ja bald ein Ende. Die Curia scheint zielsicherer zu werden, das war ja kaum Widerstand gegen Sinkiewicz... oder es gehen ihnen die Kardinäle aus."
Olivier schüttelte den Kopf. „Wenn Metatron kommt, gehe ich. Außerdem ist Kardinalsmangel kein Grund, die Papstwahl aufzuhalten. Eigentlich darf jeder katholische Christ zum Papst gewählt werden, wußten Sie das? Sie sind doch Katholik?"
„Ja", meinte Detweiler, „aber ich glaube nicht an Engel."

florian weller mai MMII

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